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Eingestürzte Gebäude in Kahramanmaras, nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Menschen versuchen, andere unter den Trümmern zu finden.

APA/AFP/Adem ALTAN

erdbeben

„Es sind Zivilisten, die irgendwie versuchen einander zu helfen“

Die Wiener Fotografin Mercan Falter hat Familienangehörige in einem der Gebiete, die von den Erdbeben besonders betroffenen sind.

Livia Praun hat mit Mercan Falter gesprochen.

Radio FM4: Du berichtest seit gestern auf Twitter und auf Instagram von der Situation in der türkischen Provinz Hatay, wo Familienangehörige von dir wohnen. Wie ist die Situation momentan?

Nachbar in Not - Hilfe für die Opfer des verheerenden Bebens

Auch der ORF und Nachbar in Not starten eine gemeinsame Hilfsaktion für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien. Alle Informationen und Spendenmöglichkeiten gibt es auf nachbarinnot.ORF.at!

Mercan Falter: Hatay zählt zu den Orten mit den meisten Todeszahlen. Und trotzdem gab es bisher wirklich kaum Hilfe. Meine Familie ist seit über 40 Stunden verschüttet. Erst heute in der Früh, 30 Stunden später, ist offizielle Hilfe angekommen. Die ziehen gerade ab, habe ich erfahren. Ich nehme an, dass sie triagieren, weil nicht genug Leute vor Ort sind. Das heißt, meine Familie ist noch nicht gefunden. So geht es gerade sehr vielen in Samandag, in Antakya, Iskenderun. Das sind lauter Riesenstädte, die dem Boden gleich sind. In Antakya erreicht man fast niemanden, in Samandag erreicht man fast niemanden.

Es sind Zivilisten, die irgendwie versuchen einander zu helfen, mitunter auch falsch helfen. Bei unserem Haus haben Zivilisten es versucht mit Kränen. Da soll man auf gar keinen Fall schwere Maschinen bedienen, wenn man noch Überlebenschance sieht. Das konnten sie natürlich nicht wissen. Aus ihrer puren Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit haben sie halt einfach getan, was ihres Erachtens richtig ist. Und dann kommt 30 Stunden später professionelle Hilfe und sagt: Nein, so macht man das nicht.

Wasser ist ein Problem. Die Leute frieren. Sie sind mit ihren Pyjamas rausgelaufen, stehen vor ihren Trümmern, sitzen in ihren Autos, solange sie halt noch irgendwie heizen können. Wir haben schon einen Todesfall in der Familie. Von fünf weiteren, die verschüttet sind, warten wir immer noch auf Nachricht, darunter ein Baby. Es ist außergewöhnlich kalt allgemein in diesem ganzen Gebiet. Es wird bis Donnerstag weiter frieren. In der Nacht hat es geschüttet. In höhergelegenen Gebieten hat es geschneit.

Radio FM4: Weißt du, warum das so lange dauert, bis Hilfe kommt?

Mercan Falter: Ach, Hatay ist ein multikultureller Schmelztiegel. Es leben arabische Aleviten, kurdische Aleviten, Christen, Armenier, Aramäer, es leben so viele kulturell bunt gemischte Menschen dort. Ich weiß nicht. Man kann natürlich auch nur mutmaßen, aber es ist halt schon sehr eigenartig, dass wir das aus so vielen alevitischen Regionen hören, aus kurdischen Regionen hören, dass dort einfach keine Hilfe ankommt oder irrsinnig spät oder viel zu wenig.

Gestern untertags haben wir Bergungsarbeiten in Adana in Osmaniye gesehen. Das ist eine Stunde von Hatay entfernt. Ich kann mir einfach nicht erklären, wie meine Familie aus Istanbul mit dem Auto durch das Schneechaos vor der Hilfe, die eine Stunde entfernt ist, ankommen konnte. Internationale Hilfe war schneller da.

Radio FM4: Ist internationale Hilfe eingetroffen?

Mercan Falter: Angeblich ist aus der Schweiz was da. Mehr weiß ich nicht. Man hört immer wieder, internationale Hilfe sei unterwegs, landet in Adana. Aber es kann nicht schnell genug sein. Auch Österreich muss mehr schicken. Natürlich ist man dankbar für jegliche Hilfe, aber es muss wirklich sehr viel mehr Hilfe hin, es ist einfach zu wenig. Die Städte sind dem Boden gleich. Wir reden hier von einem Ausmaß an Katastrophe, das wir uns überhaupt nicht vorstellen können.

Selbst wir kommen nicht mal dazu, dass wir darüber nachdenken, dass eigentlich die Hälfte meiner Familie obdachlos geworden ist, weil es gerade so viel wichtiger ist zu schauen, ob überhaupt alle am Leben sind. Das wird sich noch viele Tage ziehen, viele Wochen, viele Monate. Das muss uns auch weiter beschäftigen. Die Krankenhäuser sind eingestürzt in Hatay, der Flughafen ist kaputt, da ist die Landebahn aufgerissen. Wir müssen das politisch genauso diskutieren. Das ist auch ein Thema für Österreich, weil es gibt so viele Menschen hier, wie meine Familie, die betroffen sind und ihre Familie dort haben und einfach gerade ein wirklich kollektives Trauma erleben.

Radio FM4: Dass die Infrastruktur so beschädigt ist, dass die Leute nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchen, ist auch schlimm.

Mercan Falter: Richtig. Die Türkei muss noch diskutieren, wie es sein kann, dass gerade staatliche Gebäude einstürzen. Was nach 1999 (nach der letzten Erdbebenkatastrophe in der Region, Anm. d. Red.) nicht passiert ist, was es da für Korruption gibt, dass man gerade im Erdbebengebiet nicht vorbereitet ist.

Radio FM4: Hast du aktuell Kontakt zu Verwandten vor Ort?

Mercan Falter: Ja, mein Vater ist vor Ort und viele andere meiner Familie. Wir versuchen, uns die ganze Zeit am Laufenden zu halten, so gut es geht. Es dürfte jetzt Strom geben. Ich weiß nicht, ob das für ganz Hatay der Fall ist, ich denke nicht. Bisher mussten sie auf jeden Fall mit dem Akku haushalten. Aus irgendeinem Grund dringen meine Anrufe zu meinem Vater besser durch. Untereinander können sie sich vor Ort eher schlecht verständigen. Wir hören von überall Rufe, dass keine Hilfe da ist.

Radio FM4: Wer kam denn bisher, um beim Bergen zu helfen oder eben auch, um die Leute, die quasi schon in Sicherheit sind, zu versorgen?

Mercan Falter: Es wurde noch niemand gefunden, es wurde noch niemand geborgen aus den Trümmern. Die AFAD, die offizielle Einheit (des türkischen Staates, Anm. d. Red) war vor Ort mit den Suchhunden. Was ich weiß, ist, dass die Suchhunde angeschlagen haben. Dort wurde dann mit den Händen gegraben. Mein Cousin hat jetzt geschrieben, dass sie grad wieder abziehen, weil einfach so viel Bedarf ist. Also nehme ich an, dass sie triagieren, was natürlich eine furchtbare Nachricht für uns ist. Aber wir versuchen trotzdem, die Hoffnung nicht zu verlieren.

Eingestürzte Gebäude in Jindayris, nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Menschen versuchen, andere unter den Trümmern zu finden.

APA/AFP/AAREF WATAD

Hilfsorganisationen bitten um Spenden

Nach dem Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion haben zahlreiche Organisationen Hilfsraufrufe gestartet. Für Erste Hilfe, Nahrungsmittel und Wasser, Decken und Schlafsäcke, psychologische Betreuung und die Koordination von Unterkünften würden Spenden dringend benötigt, so der Appell. Vor allem das von mehreren Krisen gebeutelte Syrien habe das Beben in einer verheerenden Lage erwischt. Hier spenden

Nachbar in Not - Hilfe für die Opfer des verheerenden Bebens

Auch der ORF und Nachbar in Not starten eine gemeinsame Hilfsaktion für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien. Alle Informationen und Spendenmöglichkeiten gibt es auf nachbarinnot.ORF.at!

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