FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Leere Supermarktregale

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

End of the Salad Days

Das immervolle Supermarktregal als großes Symbol der Überlegenheit des Kapitalismus, im UK ist es schon Vergangenheit.

Von Robert Rotifer

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ich wusste ja gestern nicht genau, warum ich in den Supermarkt ging. Um einzukaufen oder um leere Regale zu fotografieren, beides zugleich geht ja leider nicht.

Oder doch, denn am Ende war es dann so halb halb. Es gab schon ein bisschen Grünzeug, wenngleich schütter verteilt, nur kaum Salat, keine Tomaten und vereinzelte Paprika und Gurken.

Leere Supermarktregale

Robert Rotifer

Ein Päckchen Paprika, eine Gurke...

Weit ist es mit mir gekommen, einst hab ich von hier über eine blühende Pop-Szene berichtet, jetzt schick ich euch Bilder von leeren Supermarktregalen. „Du traurige Existenz“, spottet ihr ganz zurecht über den Kanal.

Aber erstens ging ich ja nicht in irgendeinen Supermarkt, sondern zu Waitrose, wo die Bourgeoisie hingeht, um die Zutatenlisten ihrer Ottolenghi-Rezepte abzuhaken. Und wenn eine Knappheit einmal diese von der gemeinen Plebejer*innenrealität losgelöste Zitadelle des unberührbaren Wohlstands erreicht hat, dann wird es selbst für einen statusbewusst seriösen Korrespondenten schon langsam berichtenswert. Also warum nicht auch für mich?

Leere Supermarktregale

Robert Rotifer

...,und gar keine Tomaten gestern bei Waitrose

Zweitens wiederum bin ich alt genug (okay, das hattet ihr nicht bezweifelt), um noch aus Ostblock-Zeiten zu wissen, was für eine politische Potenz Bilder leerer Supermarktregale ausüben können. Britanniens fehlendes Grünzeug hat das Zeug dazu, so symbolträchtig zu werden wie einst die abgängigen Bananen in der DDR. Hatten nicht die hiesigen Politiker*innen und ihre medialen Mundstücke einst billigeres Essen nach dem Brexit versprochen?

War die mit der neuen Souveränität Britanniens verbundene nostalgische Verherrlichung des nationalen Zusammenrückens der Nachkriegszeit bereits bei ihrer logischen Konsequenz, der Rückkehr zum alten Ration Book für Lebensmittelmarken angelangt?

Oder wie es der Foto-Blogger Marc Davenant gestern in seiner Bildbeschreibung unterhalb eines historischen Fotos ausdrückte: „Frau mit dem letzten Stück Essen in einem ansonsten leeren Geschäft in Moskau während des kalten Kriegs, fotografiert von Shepard Sherbell. Eine Folge einer Elfenbeinturmregierung, getrieben von einer aus dem Ruder geratenen Ideologie.“

Davenant musste nicht erklären, was er damit meint. Den ganzen Tag hatte auf Twitter der Hashtag #brexitfoodshortages getrendet, nachdem eine landesweite Rationierung von Salat und Tomaten in den größten Supermarktketten (nicht mehr als zwei Gurken pro Person bei Morrison’s, drei Broccoli bei Asda, drei Paprika bei Tesco usw.) in den Nachrichten als Folge von Schlechtwetter in Europa und Nordafrika begründet worden war.

Prompt, wie das Internet so tut, posteten alle Brit*innen, die gerade auf dem europäischen Festland oder gar in Afrika weilten, unter obigem Hashtag Bilder von vor Früchten, Knollen, Rüben und Blättern aller Farben und Sorten übergehenden Regalen, die eindeutig der offiziellen Darstellung zu widersprechen schienen.

Sicher, es gab auch diesmal wieder Versuche, die Schuld am Dilemma den woken Planetenretter*innen in die Schuhe zu schieben. Eine Kolumne im Telegraph tönte „Netto-Null ist der Grund, warum wir leere Supermarktregale haben.“

Aber ich würde sagen, wenn einmal sogar der Typ von Simply Red unter dem Hashtag „#BrexitBritainInDenial“ („Brexit-Britannien in Verleugnung“) einen Achtsekundenausschnitt aus dem Rolling News-Kanal der BBC mit dem Beisatz postet, „Dieser BBC-Journalist scheint sich selbst in einem kurzen Satz zu widersprechen“, dann hat das offizielle News-Management das Ohr des Mainstreams endgültig verloren.

Ach ja, der kurze Satz, auf den Herr Hucknall sich bezog? „Keine anderen europäischen Länder sind mit derselben Lebensmittelknappheit konfrontiert wie wir“, sieht und hört man da den öffentlich-rechtlichen Kollegen sagen, „aber es liegt vor allem am schlechten Wetter und den Versorgungsketten, nicht am Brexit.“

Die BBC veröffentlichte dazu sogar noch eine Erklärer-Story, die unter Zitierung anonymer „Quellen aus der Industrie“ den Brexit als „unwahrscheinliche Ursache“ für die Engpässe bezeichnete.

Nun würde ich zwar instinktiv gern in den Hohn über diese offensichtliche Verarschung mit einstimmen bzw. den gesamten britischen Medienapparat des konzertierten Gaslighting der Bevölkerung bezichtigen, schließlich sind ja gerade die Versorgungsketten eben sehr direkt vom Brexit betroffen.

So ist zum Beispiel die EU der größte Handelspartner Marokkos, insofern wundert es nicht, dass die EU im Gegensatz zum Kleinmarkt UK einen privilegierten Zugang zu von dort kommenden Lebensmitteln genießt.

Aber das ändert nichts daran, dass die randvollen Regale bei euch eigentlich auch eine Art praktizierter Realitätsverweigerung sind, soweit die Mächte des Markts es ermöglichen.

Denn an der Geschichte von den verdorbenen Ernten in Spanien oder Marokko ist wohl schon einiges Wahres dran, nur dass der ganze Versorgungsapparat hart daran arbeitet, euch tunlichst nichts davon spüren zu lassen.

Aber wenn es mit klimatischen Bedingungen wie Trockenheit und Fluten, Hitzewellen und Wirbelstürmen so weitergeht, wie es sich nun anlässt, dann wird die Bedrohung der bei unsereins für selbstverständlich genommenen Lebensmittelversorgung, inklusive durch die eigene Landwirtschaft, vor der National Farmers Union-Chefin Minette Batters hier und heute schon dringend warnt, auch bei euch ankommen.

Aus unmittelbarer Erfahrung kann ich sagen: Das geht erstaunlich schnell.

Aktuell: