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Der britische Premier Rishi Sunak vor seinem Rednerpult mit der Aufschrift "Stop the boats"

APA/AFP/POOL/Leon Neal

ROBERT ROTIFER

Die große Angst des UK vor den kleinen Booten

Die britische Regierung plant ein Gesetz, das die Menschenrechte und die UNO-Flüchtlingskonvention brechen würde. In Schwierigkeiten kommt aber ein Ex-Fußballer, der daran sanft Kritik übt. 2023 Normal.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

„Lassen sie mich intervenieren“, sagte Fiona Bruce, Moderatorin gestern Abend in der BBC-Podiumsdiskussions-Sendung „Question Time“. „Ich bestreite nicht, was Sie sagen“, erklärte sie in Richtung jener Diskutantin, die Stanley Johnson, den Vater des Ex-Premierministers gerade als „verbuchten Frauenschläger“ („a wife-beater, on record“) bezeichnet hatte.

Bruce hielt dabei eine ordnende rechte Hand hoch, den Kugelschreiber zum Dirigentinnenstab zwischen die Finger geklemmt, und fuhr im Tonfall einer lästigerweise zu verlesenden Tagesordnung fort: „Nur damit alle wissen, worauf sich das bezieht: Stanley Johnsons Frau sprach mit einem Journalisten, Tom Bower, sie sagte, dass er ihr die Nase gebrochen habe, und sie sei als Folge davon im Spital gelandet. Stanley Johnson hat dazu keinen öffentlichen Kommentar abgegeben. Freunde von ihm haben gesagt", hier bremste Bruce sich ein und hob die Stimme: "Es ist passiert, es war ein Einzelfall.“

Dabei drehte sie die Handfläche nach oben und schob dezent das Kinn vor, so wie ein Gebrauchtwagenhändler, der einem erklärt, dass, ja, die Chassis-Nummer nicht dieselbe ist wie im Typenschein, aber sowas kann vorkommen.

Ich erzähle diese in obigem Tweet nachsehbar verewigte Anekdote hier nur zum Einstieg, damit wir uns erinnern, in ungefähr welcher Welt der Rest unserer Story spielt. Der Hintergrund: Ex-Premier Boris Johnson hatte in seiner Vorschlagsliste für Ehrungen durch den König (ein Privileg, das jede*r Premier nach seinem/ihrem Abgang genießt) seinen eigenen Vater Stanley zum Ritterschlag nominiert. Seine Mutter hatte dem Johnson-Biographen Tom Bower gegenüber übrigens angegeben, Stanley habe sie „immer wieder“ geschlagen. Ein „Einzelfall“ (Bruce bzw. Johnsons Freunde) war also bloß der Nasenbeinbruch gewesen.

Als ich Anfang der Woche diese Kolumne zum Thema der britischen Panik vor einer mutmaßlichen Flüchtlingsinvasion zu planen begann, war diese damit scheinbar unverwandte Geschichte bloß eine von vielen über den offensichtlichen Machtmissbrauch an der Spitze des britischen Staats, die gerade die Runde durch die Medien machten.
Nebst, zum Beispiel, der Story, dass der Chairman der BBC vor seiner direkten Bestellung durch Boris Johnson für eben denselben ein Darlehen von umgerechnet 900.000 Euro zu beschaffen geholfen hatte.
Oder den an die Öffentlichkeit gedrungenen, hochpeinlichen Whatsapp-Messages des Ex-Gesundheitsministers aus Zeiten der Covid-Krise.
Oder einem anstehenden Ärztestreik.
Und noch einigem mehr.

Der Bedarf nach einer schadensbegrenzenden Ablenkungsstrategie hing also zentnerschwer in der Luft, und aus Statements von Premierminister Sunak und Innenministerin Suella Braverman war bereits abzulesen, in welche Richtung diese gehen würde.

Daher mein Themenvorschlag an die FM4 Redaktion: „Ich würde gern was schreiben über die wieder einmal geschürte Angst vor kleinen Booten voller Flüchtlinge, die über den Kanal kommen, als periodisch künstlich hergestellte Krise und klassisches Beispiel der Regierung im permanenten Notfall.“

Fünf Tage später ist genau dieser leicht voraussagbare Zyklus aus Angstmache und demonstrativem Durchgreifen – die Feststellung möglicher Ähnlichkeiten mit eurer eigenen innenpolitischen Blase überlasse ich wie immer euch – nun also bereits durchgespielt, samt Entwicklung unvorhergesehener, aber mit medialer Assistenz gesteuerter Eigendynamiken.

Während ich das hier schreibe, trifft Rishi Sunak den französischen Präsidenten Macron, um mit ihm über eine Lösung des eine Woche lang zum alles dominierenden Thema hochgeschaukelten Flüchtlingsproblems zu sprechen.

Um an diesen Punkt der staatsmännischen Selbstdarstellung zu gelangen, hat die Regierung die ganze Woche auf allen Kanälen Botschaften ihres entschlossenen Vorgehens gegen von Frankreich nach England übersetzende, mit Menschen in Not gefüllte Schlepperboote verbreitet.

Die Kampagne begann ernsthaft am Sonntag mit einer Titelgeschichte der als konservatives Sprachrohr verlässlichen „Mail“: „Vorstoß des Premierministers zur Beendigung der Farce von Asylwerber*innen, die Menschenrechte missbrauchen, um im UK zu bleiben – Rishi: Täuscht euch nicht, ich werde die Kanal-Migrant*innen deportieren.“

Lee Anderson, der von Sunak erst kürzlich bestellte, stellvertretende Chairman seiner Partei, Rechtsaußen und deklarierter Todesstrafenbefürworter, stellte sich auf Twitter dahinter: „Im Jahre 1941 verließ mein Großvater das Bergwerk, legte eine Armeeuniform an und ging los, um die Nazis zu bekämpfen. Er setzte für König und Heimat sein Leben aufs Spiel. Er lief nicht davon und ließ meine Großmutter und ihre Kinder zurück. Ich begrüße diese Neuigkeiten von Rishi, und mein Großvater würde das auch tun.“ Rotes Herzchen-Emoji dazu.

Männliche Asylwerber, so lernten wir daraus, sind genau dasselbe wie Leute, die sich im Zweiten Weltkrieg vor dem Kampf gegen die Nazis drückten. Nur daheim bleiben ist ehrenhaft. Und wenn man Andersons Analogschluss bis zum Ende seiner verheerenden Logik folgt, dann galt das offenbar auch für damalige Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich.

Verständnis zeigte Lee Anderson indessen für jene hunderten Demonstrant*innen, die vor Hotels randaliert hatten, in denen Asylwerber*innen provisorisch untergebracht sind. Diese Menschen seien „keine Rechtsextremen, sondern normale Familienmenschen“ (wenngleich tatsächlich so familiäre Gruppierungen wie die „Patriotic Alternative“ dahinter standen, aber Andersons Nähe zu weißen Nationalisten ist ohnehin längst dokumentiert und hat seinem Aufstieg bei den Tories nicht geschadet).

Auch Innenministerin Suella Braverman sprach von „verständlichen Spannungen innerhalb von Communities“. Kein Wunder, wenn sie selbst jüngst in einer Kolumne von „100 Millionen vertriebenen Menschen auf der ganzen Welt“ schrieb und „voraussichtlich Milliarden mehr, die darauf aus sind, falls möglich hierher zu kommen“.
Milliarden, die nach Britannien kommen, die kleine Insel würde glatt versinken!

Tatsächlich waren es (trotz allerdings sprunghaftem Ansteigen, unter anderem, weil Großbritannien mit der EU auch die Dublin-Konvention verlassen hat) laut Daten aus Bravermans eigenem Ministerium im vergangenen Jahr rund 45.000, die per Boot britisches Gebiet erreichten, eine für ein 67-Millionen-Land ziemlich unschwer absorbierbare Zahl.

Wie unter anderem Dimitrios Giannoulopoulos, Professor der Jus-Abteilung an der Londoner Goldsmiths-Universität, in einem Tweet feststellte, hatte die vereinte Hauspresse der Regierung sich am Dienstagmorgen bereits voll auf das gewünschte Thema eingeschwungen:

„Kleine-Boote-Krise – Wir werden an die Grenzen des Menschenrechts gehen“, titelte die „Daily Mail“.
„Kein Eintritt – Kleine-Boote-Migrant*innen seit HEUTE verboten“, polterte „The Sun“.
„Suella: Unterstützt das Gesetz zum Stoppen der Boote... oder ihr verratet Britannien“, dramatisierte der „Daily Express“ im Namen der Innenministerin.

Am selben Nachmittag präsentierte Premier Sunak bereits seinen neuen Gesetzesvorschlag gegen „illegale Immigration“. Sein Team hatte dafür eigens sein Rednerpult in der Downing Street mit dem Drei-Worte-Slogan „Stop the Boats“ versehen, ein direktes Zitat eines alten Wahlslogans des australischen Rechtspopulisten Tony Abbott.

In der Unterhausdebatte am Tag danach bezeichnete Sunak den Labour-Chef Keir Starmer als „bloß einen weiteren linken Anwalt, der sich uns in den Weg stellt“, gemäß dem Usus der Regierung, die Opposition, den eigenen öffentlichen Dienst und Jurist*innen, die Flüchtlinge vertreten, als Teil einer volksfeindlichen Verschwörung zu charakterisieren. Innenministerin Suella Braverman hat in diesem Zusammenhang unübersetzbar, aber nachfühlbar dehumanisierend von einem „activist blob“ gesprochen.

Dabei zeigte sich gerade die Labour Party bereit, sämtliche humanitären Prinzipien über Bord zu werfen, um der Regierung nur ja nicht in die Falle zu gehen. Starmers Kritik an Sunak richtete sich dementsprechend nicht etwa gegen dessen menschenrechtswidrige Linie gegenüber Asylsuchenden, sondern beklagte vielmehr das mangelnde Tempo bei der Abweisung ihrer Anträge. Tolle Taktik!

„Die Tories haben in Sachen Kleine-Boot-Überfahrten versagt“, ließ der Parlamentarier Stephen Kinnock (Sohn von Ex-Parteichef Neil und Mann der dänischen Ex-Premierministerin Helle Thorning-Schmidt) per sozialen Medien in bedrohlich reißerischer, der Regierungsprogaganda in ihrem Alarmismus um nichts nachstehender Grafik wissen.

In solchen Fällen des politischen Versagens der Opposition braucht es individuelle Zivilcourage, idealerweise prominenter Stimmen.

Diese Rolle übernahm nicht zum ersten Mal der bei der BBC als Fußball-Show-Anchorman hochpopuläre Ex-Mittelstürmer Gary Lineker.

Erst kommentierte er eines der Propaganda-Videos der Innenministerin als „jenseits von furchtbar.“

Nach Kritik an dieser Stellungnahme präzisierte Lineker sein Argument: „Es gibt keinen riesigen Zustrom. Wir nehmen viel weniger Flüchtlinge auf als andere große europäische Länder. Es ist einfach eine maßlos grausame Maßnahme, die sich gegen die verwundbarsten Menschen richtet, und das in einer Sprache, die nicht allzu unähnlich jener ist, die von Deutschland in den Dreißigern gebraucht wurde. Und ich soll hier der sein, der zu weit geht?“

Damit erreichen wir schließlich den Punkt der ungeplanten Eigendynamik im Verlauf dieser Kampagne, denn merke: Vergleiche mit dem Dritten Reich sind in Großbritannien jederzeit zur Hand (siehe Lee Andersons zitierte Flüchtlingsschelte oben bzw. sämtliche außenpolitischen Konflikte Britanniens, die mit geradezu pflichtgemäßer Regelmäßigkeit mit dem Kampf gegen Hitler gleichgesetzt werden), aber sie werden völlig unduldbar, sobald es um Kritik von „links“ (ein Fußballmoderator! Noch dazu einer, der einst in weit schärferer Sprache gegen Jeremy Corbyn getweetet hatte) am Vorgehen einer konservativen Regierung geht.

Und so kam es, dass eine xenophobe Kampagne gegen Asylsuchende sich für den ganzen Rest der Woche in eine Debatte über Gary Linekers „Nazi-Tweet“ verwandelte.

Sein Job als Freelancer bei der BBC (und nicht etwa der des BBC-Chairman, siehe oben) hing plötzlich an einem seidenen Faden, denn genau jener rechte Part des öffentlichen Diskurses, der sich sonst immer über die Bedrohung der Redefreiheit durch die Cancel Culture erregt, füllte nun Kolumnen über die angebliche Unvereinbarkeit von politischen Äußerungen mit dem unparteiischen Ethos öffentlich-rechtlicher Medien, mit entrüsteten bis „wohlmeinenden“ Ratschlägen an Lineker, er solle seine Tweets gefälligst löschen und sich entschuldigen.

Nicht etwa die Tatsache, dass der UNHCR Großbritanniens Gesetzesvorschlag als menschenrechtswidrig bzw. als einen Bruch der Flüchtlingskonvention kritisiert hatte, führte nun die Schlagzeilen an, sondern das moralische Dilemma des Gary Lineker.

Und natürlich folgte bei der Gelegenheit auch unvermeidlich der Vorwurf, Lineker verharmlose mit seinem Vergleich den Holocaust. Selbst wenn er in seinem Tweet doch dezidiert „die Sprache“ im Deutschland der Dreißiger angesprochen hatte. Jene hetzerische Sprache also, die den Holocaust erst möglich gemacht hat (würde jetzt ausufern, aber hier mein eigener Thread zum inflationären Gebrauch des Vorwurfs der Verharmlosung).

Selbst als das Board of Deputies als quasi-offizielles, ansonsten eher konservatives Sprachrohr der britischen Juden*Jüdinnen unter Berufung auf die historische Präzedenz der eigenen Fluchtgeschichte ernste Sorge über den Gesetzesvorschlag der Regierung anmeldete, fand dieses Statement kaum mediales Echo (in frappantem Gegensatz etwa zu jenen Zeiten 2017-2019, als das Board of Deputies Antisemitismus in der Labour Party kritisierte).

Übrigens: Was tat wohl die Labour-Opposition? Sie fiel Gary Lineker prompt in den Rücken. Schatteninnenministerin Yvette Cooper erklärte, man solle überhaupt gar nie was mit den Dreißigern vergleichen. Was die Rede vom „Niemals vergessen“ freilich auf ein bloßes Zeremoniell ohne Konsequenz reduziert, ja schlimmer noch, auf eine falsche Form von Gewissheit, dass ohnehin nichts Vergleichbares je passieren kann.

So, und nachdem ich abschließend den Wunsch mancher ahne, ich solle mich doch der vermeintlichen Ironie zuwenden, dass ausgerechnet Menschen dünklerer Hautfarbe wie Sunak oder Braverman so eine Art von Politik fahren: Darüber, warum das kein Widerspruch ist, habe ich hier schon zu Rishi Sunaks Amtsantritt Genaueres geschrieben, also bitte nachzulesen.

Und was passiert als nächstes? Natürlich der Showdown mit dem Europäischen Menschrechtsgerichtshof und dem UNHCR, die Inszenierung eines neuen Unrechts, das der übermächtige, kosmopolitische „blob“ der wie immer unschuldigen britischen Nation angetan hat.

Gary Lineker wiederum darf, wie heute Abend bekannt wurde, seine Sendung „Match of the Day“ einstweilen nicht präsentieren, bis seine Rolle in den sozialen Medien „geklärt“ sei. Seine Ko-Moderatoren, die Ex-Fußballer Ian Wright und Alan Shearer, haben bereits erklärt, dass sie aus Solidarität mit Lineker ebenfalls nicht zur Arbeit erscheinen werden.

Eine wahre Sternstunde für die ach so furchtlos unabhängige BBC.

Und Stanley Johnson, der Nasenbrecher? Der wird ein „Sir“, sowieso.

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