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Daniela Brodesser bei FM4

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„Man erkennt die eigene Armut meistens erst, wenn es schon zu spät ist“

In Österreich gelten 17% der Menschen als Armuts- und Ausgrenzungsgefährdet. Was das für Einzelne bedeutet, schildert die Autorin und Aktivistin Daniela Brodesser seit einigen Jahren auf ihrem Account „Frau Sonnenschein“ auf Twitter, und nun auch in ihrem Buch „Armut“.

Von Veronika Weidinger

Autorin Daniela Brodesser ist Armutsaktivistin und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Linz. Durch zwei schwere Erkrankungen gerät die Durchschnittfamilie in Armut. Was das für den Alltag mit Mann und vier Kindern bedeutet, über Vorurteile, Scham- und Ausgrenzungserfahrungen erzählt Daniela Brodesser auf Twitter und jetzt auch mit ihrem Buch „Armut“, erschienen im Verlag Kremayr&Scheriau.

Armut ist ein extrem schambesetztes Thema. Das führt oft dazu, dass sich Betroffene nicht austauschen, sich keine Hilfe suchen und sich finanzielle Unterstützung, die ihnen eigentlich zusteht, nicht holen. 70.000 Menschen sind in Österreich solche sogenannte non takers, also holen ihre Hilfe nicht ab.

Daniela Brodesser hat klare Forderungen an die Politik. Sie meint, es muss sich strukturell einiges ändern, um Armut zu verhindern. In ihrem Buch „Armut“ verbindet sie ihre Geschichte mit aktuellen Zahlen und Fakten, sowie konkreten Forderungen an die Politik. Wir haben sie zum Interview geladen.

FM4: Armut misst sich am Standard der Gesellschaft, in der man lebt. Die sogenannte Armutsgefährdungsschwelle liegt in Österreich für Menschen, die alleine leben, bei einem Einkommen von 1371 Euro – für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und 2 Kindern bei 2880 Euro. Das sind Zahlen, aber was heißt denn der Alltag mit Familie, arm zu sein, wie war das bei euch?

Daniela Brodesser: Bei uns war es sehr weit darunter. Dadurch, dass mein Mann freier Dienstnehmer war und bei mir das Arbeiten durch die Betreuung der Jüngsten leider komplett weggefallen ist, gab es Monate, da waren wir bei knapp 1000 Euro Familieneinkommen. Bei uns war es so, dass ich zum Glück die Miete reduzieren hab können, indem ich dem Vermieter beim Haushalt geholfen hab und solche Sachen. Man probiert dann alles, damit man irgendwie monatlich über die Runden kommt.

Buchcover mit Absperrung als Symbol für Ausgrenzung

Kremayr & Scheriau

Das Problem das die meisten haben, ist: Dass es nicht mehr geht, sieht man eigentlich erst dann, wenn es schon zu spät ist. Das war bei uns genauso. Wir wollten es am Anfang nicht wahrhaben, weil man sich immer denkt: Na, es wird bald wieder besser, der Job wird besser, er findet was anderes, die Gesundheit von der Kleinen lässt es bald wieder zu, und so weiter. Am Anfang kämpft man sich so durch. Man hat noch Erspartes von den letzten Urlaubs- und Weihnachtsgeldern vielleicht, das Auto läuft noch. Irgendwann kommt aber der Punkt, wo die ersten Reparaturen kommen. Der Kühlschrank wird kaputt, der Herd wird kaputt, die Sportwoche ist zu zahlen.

Das war bei uns dann der Punkt, wo wir gemerkt haben: Ich kann mir aussuchen, zahl ich die Reparatur vom Auto, damit der Mann in die Arbeit fahren kann, oder zahl ich die Miete? Und das sehen ich und viele Andere derzeit als das größte Problem bei den Menschen, die finanziell kämpfen mit den Teuerungen. Die sind genau in dieser Phase: Es wird ja wieder besser. Darum ist es so wichtig, dass wir über Armut reden, dass keine Scham dahinter ist. Je eher die Menschen drüber reden, umso eher wird es ihnen bewusst.

Du bist vor einigen Jahren dann via Twitter an die Öffentlichkeit gegangen – manche kennen dich vielleicht als „Frau Sonnenschein“. Die Reaktionen auf den sozialen Medien waren dann sehr unterstützend. Das hast du nicht erwartet, richtig?

Absolut nicht. Das war 2017. Ich habe zu dem Zeitpunkt schon Demütigungen und Beschämung erlebt. Man isoliert sich, man steckt das Meiste zurück, man vermeidet wirklich solche Situationen, das ist die berühmte Vermeidungshaltung. Aber an dem Tag gab es einfach eine Demütigung, die war nicht die schlimmste von allen, aber sie war vor den Kinder und sie war einfach der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich bin dann in die Wohnung rein und ich weiß noch ganz genau, ich bin dann wirklich mal eine halbe Stunde da gesessen und habe geweint. Und ich habe mir gedacht: Entweder ich lasse es jetzt einfach irgendwo raus - es muss raus! - oder ich resigniere komplett und falle in einen Frust rein und in die richtige Opferrolle. So richtig: Warum ist die Welt so böse? Und das wollte ich nicht.

Und warum es Twitter geworden ist? Wahrscheinlich deshalb, weil auf Facebook oder Instagram ganz viele Bekannte waren. Das war auch wieder diese Haltung: Es könnte ja wer lesen, der mich kennt. Das will ich nicht. Twitter war für mich ein komplett unbekanntes Medium und ich hab dort einen anonymen Account angelegt und einfach mal einen Thread geschrieben. Es haben sie dann so viele Betroffene gemeldet, die gesagt haben: Hey, genau so oder so ähnlich erlebe ich es seit Jahren. Nur ich habe es nie formulieren können. Und Nichtbetroffene haben sich auch gemeldet, die einfach entsetzt waren, weil sie Armut aus dieser Perspektive noch nie gesehen haben. Es gibt zwar immer wieder diese Trolle und auch Beschämer, aber durch die Community, die ich inzwischen hab, lass ich die auch gar nicht mehr an mich ran.

Armut wird in Europa anhand des Einkommens bemessen und nicht anhand dessen, was überbleibt, wenn die Fixkosten gezahlt sind – in Zeiten von Energiekrise, Teuerung und Inflation spüren gerade alle, dass ihnen am Ende des Monats weniger übrig bleibt. Zu wenig ist es auch für Viele, die eigentlich der sogenannten Mittelschicht angehören. Wie nimmst Du diese Entwicklungen wahr?

Es schreiben auch viele Armutsbetroffene, schon in den letzten fünf Jahren, die einfach ab dem 20. des Monats nicht mehr über die Runden gekommen sind.

Inzwischen ist es so, dass Armutsbetroffene schon ab dem 10. des Monats nicht mehr über die Runden kommen.

Und seit letztem Mai melden sich einfach immer mehr Menschen aus der Mittelschicht. Sie kommen nicht mehr übers Monat und kommen genau an den Punkt: Es darf nicht passieren, nur ja nichts kaputt werden, es darf niemand krank werden und niemand den Job verlieren. Und da entstehen gerade immens viele Menschen und Familie mit Existenzängsten, mit Unsicherheiten.

Es ist mir schon klar, dass der Staat natürlich nicht jeden Luxus abfangen kann, das soll er auch nicht. Aber es wäre wichtig, dass wir den Menschen die Sicherheit geben und sagen: Ihr werdet die Wohnung nicht verlieren. Ihr werdet am Monatsende noch was zum Essen haben, zum Beispiel die Grundnahrungsmittel, also die billigsten Grundnahrungsmittel. Ich war letzte Woche wieder bei einem Discounter einkaufen, und ich kenne es von mir früher, man hat die billigsten Nudeln gekauft. Aber seit Wochen kriege ich die nicht mehr, weil inzwischen die Mittelschicht die Produkte kauft. Und da muss endlich auch etwas passieren.

Die Regierung diskutiert gerade über die Mietpreisbremse, andere Einmalzahlungen sind in den letzten Monaten ausgeschüttet worden – reagiert die Politik richtig? Was hilft oder würde helfen, Armut zu verhindern?

Erstens: Die Einmalzahlungen waren an und für sich nicht schlecht. Zweitens: Es muss endlich eine Erhöhung des Arbeitslosengelds her. Wir haben in Österreich noch immer ein Arbeitslosengeld von 55% netto Ersatzquote. Sprich: Wirst du arbeitslos, stehst du ab morgen fast mit der Hälfe vom Einkommen da. Da kannst du dir die Miete nicht mehr leisten bei den gestiegenen Mietpreisen. Und die Sozialhilfe: Wir haben neun verschiedene Sozialhilfen-Grundgesetze, neun Bundesländer. In Oberösterreich haben wir zum Beispiel eines der restriktivsten. Da wird sogar, wenn du Sozialhilfe kriegst, die Wohnbeihilfe davon abgezogen, während das in anderen Bundesländern nicht so ist.

Es braucht endlich wieder eine Mindestsicherung, die wirklich Mindeststandard ist in ganz Österreich. Und was mich persönlich irrsinnig ärgert: Es steht im Regierungsprogramm als eines der Ziele die Halbierung der Armut in Österreich bis zum Ende der Legislaturperiode. Ja, sie steigt aber. Sie steigt nicht offiziell, weil offiziell geht es ja nur immer noch rein nach dem Einkommen. Wenn man sich aber anschaut, wieviele Menschen sich nach Abzug von Miete und Fixkosten das Leben nicht mehr leisten können, sind wir inzwischen bei locker über 25%, was die Armut betrifft.

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