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Gary Lineker

APA/AFP/Niklas HALLE'N

robert rotifer

Der Fall Lineker

Kann der Vergleich zu Deutschland in den Dreißigern je erlaubt sein? Ex-Fußballer und Star-Moderator Gary Lineker hat seinen Showdown fürs Erste gewonnen. Er darf nun wieder moderieren, nachdem er gegen die hetzerische Sprache der UK-Regierung tweetete und dafür von der BBC suspendiert wurde. Die Fragen, die sein Fall aufwirft, reichen aber tiefer: Bis zum Kern der Phrase „Niemals vergessen“.

Von Robert Rotifer

Am Freitag hab ich hier eine Kolumne geschrieben über die große Angst des UK vor den kleinen Booten, die Asylsuchende von Frankreich aus über den Ärmelkanal nach England bringen. An deren Ende stand als vorläufiger Höhepunkt der darüber entbrannten Debatten der Fall des Ex-Fußballers und TV-Star-Sportmoderators Gary Lineker.

Die BBC hatte ihn in letzterer Funktion suspendiert, weil er auf Twitter die von der britischen Regierung verwendete Sprache gegenüber Asylsuchenden mit der von Deutschland in den Dreißigerjahren verglichen hatte. Das sei ein Verstoß gegen seine Pflicht, politisch unparteiisch zu bleiben.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ein umstrittener Fall, schließlich ist Lineker für die BBC nur als Freelancer tätig, und seine Meinungen auf Sendung beschränken sich auf das Thema Fußball. Was er als Privatperson auf Twitter über die Asylpolitik der Regierung schreibt, hat damit nichts zu tun. Ja mehr noch, andere Stars der BBC wie zum Beispiel der Moderator der Reality-Serie „The Apprentice“, Sir Alan Sugar, oder der gleichzeitig als Herausgeber des konservativen Magazins „The Spectator“ fungierende Politik-Show-Moderator Andrew Neil (mittlerweile nach einem Gastspiel beim rechtsgerichteten Privatkanal GBNews zu Channel 4 abgewandert) haben immer wieder sehr eindeutig parteipolitisch getweetet, ohne dafür geahndet zu werden. Allerdings in die andere Richtung, nämlich gegen die oppositionelle Labour Party.

Die Ex-Labour-Abgeordnete Paula Sherriff kramte deshalb eine abschmetternde Antwort des BBC-Kundendiensts auf eine Beschwerde über Andrew Neils tendenziöse Twitter-Präsenz aus ihrem Archiv hervor. Darin stand:

„Andrew ist ein Freelancer und sein Twitter-Konto ist ein persönliches – die BBC ist nicht für dessen Inhalt verantwortlich. Wir weisen auch darauf hin, dass Andrew auf Twitter feststellt, dass seine Meinungen seine eigenen sind, und dass er Chairman des Spectator ist.
Das bedeutet, dass seine Tweets, die den Spectator bewerben, in Beziehung zu seiner Rolle dort und nicht zu seiner Tätigkeit für die BBC stehen.
Wenn er seine Verantwortung gegenüber der BBC erfüllt, hält er sich immer an dieselben Regeln der Unparteilichkeit wie alle anderen Moderator*innen.“

Nichts anderes sollte doch eigentlich auch für Gary Lineker gelten.

Seine Kolleg*innen traten daher aus Solidarität mit ihm, aber wohl auch zur Verteidigung ihrer eigenen Redefreiheit geschlossen in den Streik. Von seinen Ko-Moderator*innen bis hin zu den Kommentator*innen in den Stadien. Die Fußball-Sendungen der BBC mussten daraufhin teils auf ein Rumpfprogramm unmoderierter Spielzusammenschnitte reduziert, teils überhaupt abgesagt werden.

Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt geriet damit gleich mehrfach unter Druck: vonseiten der Fußballfans und der Premier League, die ihre Fußballübertragungen zurückhaben wollten. Und vonseiten derer, die in Linekers Suspendierung ein gefährliches Beispiel für Cancel Culture von rechts sehen. Wenn die BBC keine Kritik an der Regierung duldet bzw. dem Druck konservativer Abgeordneter nachgibt, die Lineker den Mund verbieten wollen, verstößt sie damit nicht selbst gegen ihren Anspruch auf Unparteilichkeit?

Für die BBC, deren Chairman Richard Sharp (wie genauer im letzten Blog nachzulesen) ein konservativer Parteispender mit engen Verbindungen zu Boris Johnson und Rishi Sunak ist, während ihr Director General Tim Davie einmal konservativer Gemeindepolitiker war, drohte sich dieser Fall zu einer echten Existenzkrise auszuweiten. Denn gerade ihr Anspruch auf kritische Distanz zur Regierung steht ja eigentlich im Kern ihres Selbstverständnisses. Wenn die BBC in ihrer Neutralität gegenüber der Staatsmacht unglaubwürdig wird, platzt die ganze über 100 Jahre gepflegte Illusion ihrer politischen Unbestechlichkeit.

Das Ausmaß des durch Linekers Abberufung (eine persönliche Entscheidung des Director General) angerichteten Schadens für den Ruf der Corporation ist noch nicht absehbar. Aber immerhin, der Fußball-Notfall ist seit heute beendet.

Der Moderator*innen-Streik hat also gewirkt, und es sieht so aus, als hätte Gary Lineker in diesem Showdown gegen die BBC gewonnen, denn, wie es heißt, wird er nun nicht nur wieder moderieren, sondern dabei auch weiter tweeten dürfen, was er will.

Es sieht so aus, wie gesagt, aber nur wenn man glaubt, mit einem Tweet zu einem Anliegen wäre die Sache schon getan.

Einer der interessantesten Aspekte dieser Affäre war ja die oft wiederholte Darstellung, Lineker habe die britische Regierungspolitik gegenüber Asylsuchenden mit der der Nazis, ja sogar mit dem Holocaust verglichen. So hörte man es in den BBC-Nachrichten, Zeitungen schrieben von Linekers „Nazi-Tweet“, ungeachtet dessen, was er tatsächlich geschrieben hatte und warum.

Rekapitulieren wir. Die Sache hatte mit einem auf sozialen Medien verbreiteten Video der Innenministerin Suella Braverman begonnen, mit der Verkündung eines neuen Gesetzes, das Asylanträge von Bootsflüchtlingen grundsätzlich unrechtmäßig machen soll.

„Die Boote zu stoppen, ist eines der fünf Versprechen, die der Premierminister gemacht hat“, sagte Braverman da über einen Teppich aus Synthesizer-Sounds. Es sei nicht fair, dass Leute, die „illegal“ ins UK kämen, „die Warteschlange überspringen und Spiele mit unserem System treiben können. Genug ist genug. Wir müssen die Boote stoppen.“

„Himmel, das ist jenseits von furchtbar“, tweetete Lineker dazu und schrieb weiter von einer „maßlos grausamen Politik, gerichtet an die verwundbarsten Menschen, in einer Sprache nicht unähnlich jener, die von Deutschland in den Dreißigerjahren verwendet wurde.“

Natürlich bezog er sich damit auf das NS-Regime, aber wohlgemerkt eben konkret auf dessen hetzerische Sprache. Ein paar Beispiele dafür, was Lineker mit seinem Vergleich gemeint haben könnte: Premierminister Sunaks direkte Berufung, nicht auf seine Parlamentsmehrheit, sondern auf den angeblichen Willen des britischen Volkes („Stopping the boats is not just my priority, it is the people’s priority!“).
Oder seine Bezeichnung von Oppositionschef Keir Starmer als „wieder so ein linker Anwalt, der sich uns in den Weg stellt“ („He talked about his legal background, he’s just another lefty lawyer standing in our way“).

Das Beschwören eines vereinten Volkswillens, der über parlamentarischen Debatten steht, sowie die Verächtlichmachung des lästigen Rechtsstaats und seiner Vertreter sind tatsächlich Klassiker im historischen Handbuch des Faschismus.

In Linekers Ohren klangen aber wohl auch Innenministerin Bravermans entmenschlichende und feindselige Bezeichnungen von Flüchtlings-„Schwärmen“ als „Invasion“ des Landes durch. Nicht wirklich gleich, aber auch wohl – in Linekers Worten - „nicht unähnlich“ dem im Deutschland der Dreißiger von den Nazis angeschlagenen hetzerischen Ton gegenüber Jüdinnen und Juden, aber auch Roma, Sinti und anderen.

Vor einem Monat hatte Joan Salter, eine in Belgien geborene Holocaust-Überlebende, die selbst als Kind nach Großbritannien geflohen war, Braverman bei einem öffentlichen Auftritt darauf angesprochen: „Mich erinnert das an die Sprache, die dazu verwendet wurde, meine Familie und Millionen anderer zu dehumanisieren und ihre Ermordung zu rechtfertigen“, sagte sie, „Warum halten Sie es für notwendig, diese Art von Sprache zu verwenden?“

Bravermans Antwort darauf war schockierend unsensibel: „Ich werde mich nicht für die Sprache entschuldigen, die ich verwendet habe, um die Größe des Problems darzustellen.“ Das klang nicht gerade so, als hätte sie großen Respekt für die Gefühle einer Zeitzeugin, die offenbar Gary Linekers Bedenken teilt.

Lassen wir also einmal die endlosen Diskussionen beiseite, ob Linekers Tweets seine Moderatorenpflichten verletzt oder gar seine öffentliche Stellung missbraucht haben. Wesentlicher scheint mir die zu diesem Anlass vielerseits gestellte Frage, ob es denn angesichts der Unvergleichlichkeit der Verbrechen der Shoa, des Holocaust, je legitim sein könne, einen Vergleich mit der hetzerischen Rhetorik anzustellen, die diesen Verbrechen vorausging.

Ich für meinen Teil denke: Doch, das muss es sogar sein. Wenn das Wort vom „Niemals vergessen“ irgendeine Bedeutung für die Gegenwart haben soll, dann müssen wir unsere Gegenwart an der Vergangenheit messen. Oder wie es heißt, „den Anfängen wehren“. Das ist der Sinn der Erinnerung.

Ansonsten verwandelt sich das „Niemals vergessen“ in das Gegenteil davon, nämlich eine Art Rückversicherung, dass nichts, was wir tun, je wirklich so böse sein kann wie das, was damals passierte. Dass es gar nicht denkbar ist, nicht denkbar sein darf, dass unsere Gesellschaft je wieder auf die düstere Bahn in Richtung Verhetzung und Massenvernichtung gerät. Das wäre gefährlich fahrlässig. Man wird die Wiederkehr des Faschismus nicht stoppen, indem man ihn unter den Glassturz der Geschichte stellt.

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