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Das Buch "Echtzeitalter" vor dem Theresianum in Wien fotografiert

FM4 / Zita Bereuter

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Gaming und Literatur: Tonio Schachingers Coming-Of-Age Roman in einer Eliteschule

„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger begeistert mehrfach. Ein in Wien spielender Coming-Of-Age Roman, der Vieles beinhaltet: Age Of Empires, eine strenge Eliteschule, Lehrer, die auf Drill, Strafen und Angst setzen, goscherte Mädchen, kleine Schnösel, Verliebtheit, Trauer, Ibiza und Corona. Was für ein Roman!

Von Zita Bereuter

„Entweder man liest gerne, oder man spielt gerne Games. So oder so verpasst man was.“ liest man in „Echtzeitalter“. Für den Autor Tonio Schachinger ist klar: „Ich lese gern und ich spiele gern Games.“ Sein erstes Ziel war daher „eigentlich etwas für Literatur nicht geeignetes, wie dieses Computerspiel, irgendwie in Literatur zu verwandeln. Und der Rest hat sich dann mehr oder weniger ergeben.“

Ausgangspunkt war ein realer Gamer. „Es gibt tatsächlich einen jungen Österreicher, der wahnsinnig gut ist in dem Spiel.“ An den ist die Figur Till nicht angelehnt, aber „es hat geholfen, mir diese Fiktion irgendwie ausdenken zu können.“

Der Traum von Howgarts

Schon von außen beeindruckt diese Schule: Ein gewaltiges Gebäude in schönbrunnergelb, mit prunkvollen Räumen, Hallenbad und einem riesigen Park mit altem Baumbestand, Fußballfeld und diversen Sportanlagen. Dass der Park von einer großen Mauer umgeben ist, fällt kaum auf. Auch Till sieht das beim Tag der offenen Tür nicht. Der Bub denkt vielmehr an Hogwarts und fühlt sich wie in einem Harry-Potter-Spiel. Später wird er erkennen, dass die Mauer ihn gefangen hält. Und dass sein Lehrer eine Version von Lord Voldemord ist.

Es ist eine Schule für die Elite: „Ein typischer Absolvent dieser Anstalt ist jemand, der den vorhandenen Besitz seiner Familie weiter vergrößert, der als Arzt, Anwalt oder Unternehmer die Praxis, Kanzlei oder Firma seines Vaters übernimmt, dem es für seine gesamte Lebenszeit als Rebellion genügen wird, mit 17 seinen über das Hemd gelegten Pullover schräg über eine Schulter zu binden statt symmetrisch über beide.“

Der Albtraum im ‚Marianum‘

Till hat mit der Elite allerdings wenig gemein. Seine Eltern sind getrennt, die arbeitende Mutter ist froh, wenn ihr Sohn eine Ganztagsschule besuchen kann. Nach dem Tod des Vaters flüchtet Till gänzlich in das Spiel Age of Empires. Während er die Gamewelt immer besser versteht und zum weltweiten Topspieler aufsteigt, sinken seine schulischen Leistungen. Sein despotischer Klassenvorstand bestraft das streng. Till ist im Spannungsfeld des erbarmungslosen Schulalltags mit Drill, Demütigungen, Angst und Bestrafung und der fantastischen Gamewelt.

Tonio Schachinger Echtzeitalter

Rowohlt

Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Rowohlt Verlag 2023

Schließlich lernt er im Rauchereck – der einzigen Ruheinsel der Schule – zwei Mädels kennen. Beide goschert, selbstbewusst, voller Energie und interessiert an Kultur und Politik. Natürlich ist Till hingerissen und verliebt sich.

„Am Montag ist Fina wieder vor Till im Rauchereck, diesmal in der Gruppe, die sich um einen Buben aus der achten Klasse schart, der Rapper ist oder Rapper werden möchte, dem also noch nicht klar sein kann, dass man nicht rappen darf, wenn man auf so einer Schule war. Er wird von manchen hier bewundert, weil zwei Songs von ihm auf FM4 gelaufen sind. ‚Hey‘, sagt Fina, als sie Till sieht, und der Rapper dreht kurz seinen Kopf, sieht Till ausdruckslos an und wendet sich gleich wieder seinen Freunden zu, als habe sich sein Blick nur kurz verirrt, sei irgendeinem bedeutungslosen Spatzen gefolgt und richte sich jetzt wieder auf Menschen und Dinge.“

Tonio Schachinger hat ein Talent für die Feinheiten in Beziehungen, zeichnet gute Figuren und schreibt authentische Dialoge. Besonders gekonnt zeigt er die Struktur der Schule und die Welt der Kinder und Jugendlichen, von denen sich Manche aufgrund ihrer Herkunft (Geld oder Macht) fast alles erlauben können und diese Grenzen auch immer weiter ausloten.

Tonio Schachinger Echtzeitalter

Anna Breit

Tonio Schachinger studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. „Echtzeitalter“ ist sein zweiter Roman. Sein Debütroman „Nicht wie ihr“ war auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, außerdem für den Rauriser Literaturpreis nominiert und wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet.

Die Schule heißt im Roman zwar „Marianum“, bereits im ersten Absatz ist aber klar das Theresianum im 4. Bezirk in Wien erkennbar. Tonio Schachinger hat das Theresianum selbst besucht, dennoch ist ihm wichtig, „dass alles, was in dem Roman steht, fiktiv ist.“ Und natürlich gibt es „für alles, was man beschreibt, Vorbilder. Die sind nur sehr viel abstrakter, als man sich das als Leser oder Leserin erwarten würde.“

Das Eintauchen in die Erinnerungen der eigenen Schulzeit hat ihn kurzfristig auch im Schlaf beschäftigt: „Ich hatte auch tatsächlich teilweise dann wieder so Schulalbträume, was ich schon ziemlich lang nicht hatte. Dieses ganz Klassische: Man träumt von so einer Prüfung, auf die man nicht vorbereitet ist.“

Von Ibiza zu Corona

Der Roman „Echtzeitalter“ beginnt um 2010 und beinhaltet die Ibiza-Affäre bis hin zu Corona und dem ersten Lockdown. Es sind verschiedene kollektive historische Momente, die Tonio Schachinger wieder ins Gedächtnis ruft.

Das ist unterhaltsam und gut erzählt und geht dennoch in die Tiefe. Es ist literarisch, sprachlich verdichtet und fresh. Man kippt schnell rein in diese Welten - diese typisch österreichische Welt. „Während das Marianum wie
Österreich ist, akademisch mittelmäßig, ambitionslos, aber trotzdem eingebildet.“

Vieles weiß man nur, wenn man in Wien oder Österreich lebt. Der Reiz liegt nicht zuletzt in dem gelungen Spiel zwischen realen Figuren und Begebenheiten und Fiktion. Einmal mehr zeigt Toni Schachinger sein Können darin.

Update vom 17.10.2023: Für seinen Roman „Echtzeitalter“ hat Tonio Schachinger am Montag, 16.10.2023 den mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis gewonnen. Wir gratulieren!

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