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Believe the hype: boygenius und ihr Debütalbum „The Record“

Manchmal darf man’s noch sagen: Believe the hype. boygenius haben ihr Debütalbum „The Record“ veröffentlicht.

Von Lisa Schneider

Wer hören will, muss fühlen - der FM4 Musikpodcast

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Phoebe Bridgers, Lucy Dacus und Julien Baker sind boygenius und haben gerade ihr Album „The Record“ veröffentlicht. Sind boygenius die beste Supergroup der Welt? Schreiben sie die schönsten Lieder? Was ist das überhaupt, eine Supergroup? Und was hat das alles mit dem Metaverse zu tun? Plus: was ist die schönste Zeile auf „The Record“ von boygenius? Das alles und noch viel mehr besprechen Lisa Schneider und Christoph Sepin in „Wer hören will, muss fühlen“, dem FM4 Musikpodcast. Jetzt überall wo es Podcasts gibt.

„boygenius asks motherfuckers in the back to maybe not cry too loudly“ titelte vor wenigen Tagen die satirische, US-amerikanische Nachrichtenseite „The Hard Times“. Das ist gut vergleichbar mit dem Schmäh der uns allen bekannten, österreichischen „Tagespresse“: Natürlich übertrieben, aber auch ein bisschen wahr. Zumindest aber stecken in diesem Posting zwei Dinge, vielleicht die essentiellsten, die man über die Band boygenius wissen sollte: ihre Songs sind sehr sad, und sie sind, zumindest manchmal, auch sehr funny.

Die klug eingefädelte Parodie beginnt schon beim Namen boygenius, ein Nicken Richtung der Sorte minderbehirnter Menschen, die die musikalischen Geistesblitze der letzten 100 Jahre nur einem bestimmten Geschlecht zuordnen. Lucy Dacus, Julien Baker und Phoebe Bridgers gehören zu den besten Songschreiberinnen ihrer Generation, ihre Supergroup war ein Superzufall, so, wie’s bei den meisten guten Ideen ist. Julien Baker und Lucy Dacus haben sich auf Tour kennengelernt, Phoebe Bridgers ist wenig später dazugestoßen. Eine erste EP, selbstbetitelt, erscheint nach nur vier Tagen im Studio, vor fünf Jahren, 2018. Kühne Indie-Träume, Dinge, an die man vorher gar nicht zu glauben gewagt hat: Was ist uns denn da passiert?

Im heurigen Jänner ging ein Foto durchs Internet, darauf zu sehen drei junge Frauen in Gucci-Anzügen und locker sitzenden Krawatten, die Blicke mehr oder weniger ernst in die Kamera gerichtet. Ziemlich genau so war auch schon mal eine weitere, gute Band am Cover des Rolling Stone Magazin abgebildet, es war 1994, die Band hieß Nirvana. „Vor allem waren sie auch eine Band, die den Hype um sich selbst nicht ganz nachvollziehen konnte“, sagt Lucy Dacus auch hinsichtlich möglicher Gemeinsamkeiten zwischen Nirvana und boygenius. So nicht ganz geplante Idole, das waren Kurt Cobain und Co, das sind mittlerweile Lucy Dacus und Co: „Dabei sind wir selbst unsere größten Fans!“ lacht sie. Julien Baker: „Ich seh’ aber nicht wirklich aus wie Dave Grohl, oder?“

Von Idolen und ihrer Rezeption, vom Spiel mit Schlagwörtern „männlich“ und „weiblich“ und der schlichten Lust daran, Strukturen abzuklopfen und sie umzukehren. Das Rolling Stone-Issue geht mehr oder weniger zeitgleich mit dem Release der ersten drei Singles des neuen, ersten boygenius-Albums online. Es ist Jänner 2023, und bis dahin war es eigentlich noch ein kleines Geheimnis, dass da überhaupt noch einmal etwas kommen soll. Die Legende besagt, dass Phoebe Bridgers den beiden anderen kurz nach dem Release ihres mehrfach Grammy-nominierten Album „Punisher“ ein Demo und die Frage: „Können wir wieder eine Band sein?“ geschickt hat. Seit der ersten EP haben auch Julien Baker und Lucy Dacus ihre bis dato besten Solo-Alben („Little Oblivions“ und „Home Video“) veröffentlicht. Alles also irgendwie in the right place.

boygenius Cover "The Record"

Interscope Records

„The Record“ ist der erste Major-Release von boygenius (auch der jeweils einzelnen Bandmitglieder). Das Album erscheint via Interscope Records.

„I want to hear your story / and be a part of it“, so die Einladung am A-Capella-Opener „Without You Without Them“, ein knapp über einminütiges „Komm, erzähl mir deine Geschichte“. Hier leben, atmen, denken und schreiben drei unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Backgrounds, aber sie machen für die nächsten 42 Minuten einen Raum für sich und die, die mithören wollen, auf. Es ist ein sattes Album, weil so viele Stimmen zu hören sind. Es ist ein Album, das schon Zeit bekommen möchte, wiedermal frei nach der romantischen Rock’n’Roll-Roadtrip-Fantasie (und wirklich: viele Beobachterfiguren erzählen hier „from the backseat“ aus). Und es ist als so ein zeitverliebtes Album schon auch ein kleines Paradoxon, weil’s trotz Single-Zeitalter klappen wird, weil Hype, und weil gerechtfertigter Hype.

Und dann mögen Lucy Dacus, Phoebe Bridgers und Julien Baker sich auch noch. So richtig. Wer sich in letzter Zeit nicht ausgiebig über die Tatsache geärgert hat, kein Teil einer Rockband zu sein: Es wäre jetzt an der Zeit, euer Instagram zu checken. Oder sich das Video zur vierten, vor offiziellem Albumrelease veröffentlichten Single „Not strong enough“ anzusehen. Wer’s gar nicht spürt, hat gar kein Herz.

„Not strong enough“ ist ein Indie-Darling-Popsong, und auch, wenn die Credits aller Songs jeweils alle drei Namen verzeichnen, lässt sich bei einem Großteil der Lieder auf „The Record“ leicht sagen, wer welchen geschrieben hat. Oder zumindest, von wem die jeweilige Ursprungsidee stammt.

Es ist ganz klar, dass Julien „sick riffs“ Baker sich nach dem ruppig-guten „20$“ um das klanglich ähnliche „Satanist“ und „Anti Curse“ gekümmert hat. Wenn Julien Baker schreibt, geht es immer um alles, was dem Vorsatz „Meta-“ gerecht wird, wie jetzt etwa, auf „Anti Curse“ ums Leben und Sterben („Salt in my lungs, holding my breath, making peace with my inevitable death“). Erwachsenwerden ist auch nur ein Käfig, der sich ausdehnt; wer ihn wie Julien Baker hervorragend gut beschreibt, verwechselt existenzielle Wucht und Wortwahl nicht mit dem Fehlen von Ironie. Bei ihr bleibt immer Platz für beides („trying to be cool about it / feeling like an absolute fool about it“).

Natürlich sind „Revolution O“ und „Letter To An Old Poet“ Phoebe Bridgers-Songs, deren Songtexte wie wenige sonst zu gleichen Teilen elegant und körperlich sind ("if it isn’t love / than what the fuck is it; oder: „I just wanna know who broke your nose / figure out where they live / so I can kick their teeth in “). Gleichzeitig amüsiert und innerlich zerrissen, und da trifft sich Phoebe Bridgers auch schon wieder mit Julien Baker: „You said my music is mellow / maybe I’m just exhausted“.

Und natürlich sind Songs wie „We’re in love“ oder „True Blue“ Lucy Dacus-Songs. Das ist Story-Telling frei nach Bruce Springsteen und dem Motto: Es gibt kein kleines Leben, ich weine und gratuliere dem, der sich das alles hier ausgedacht hat. Bei Lucy Dacus ist ein Lied ein eigener Kosmos, da geht es um Strandausflüge („You say you’re a winter bitch, but summer’s in your blood“), um Selbstfindung („When you don’t know who you are, you fuck around and find out“), und gleichzeitig die Urangst des Entdeckt- bzw. Enttarntwerdens („And it feels good to be known so well / I can’t hide from you like I hide from myself“).

Wir wissen nicht erst seit Patti Smith oder Leonard Cohen, wie hervorragend Mantra und Musik zusammengehen, wie immer wieder wiederholte Zeilen, gesungen und schließlich geschrien, ein Lied emotional bis zum Funkensprühen aufladen. Wir wissen es aber seit Lucy Dacus und jetzt, mit diesem neuen Boygenius-Album, noch ein bisschen mehr als vorher. Querverweise durch die Neuere Musikgeschichte bzw. einmal mehr der boygenius’sche Schmäh lesen sich am besten so:

"Leonard Cohen once said, „There’s a crack in everything, that’s how the light gets in.“ And I am not an old man having an existential crisis at a Buddhist monastery writing horny poetry, but I agree.”

Ein bisschen Grunge, ein bisschen Postrock, traurige Highschoolball-Banger und die Kraft, weil die Essenz der Stripped-Down-Version: Auf „The Record“ löst eins das andere ab, das sind lauter kleine Überraschungen, die sich bedingen und die sich vor allem aufs Beste ergänzen. Es ist deshalb egal, wer welchen Song geschrieben hat, oder ob die obigen Zuschreibungen zutreffen. Es ist egal, weil die Qualität nicht schwankt. Und es ist schließlich nochmal egal, weil das eine Diskussion ist, die man den Die-Hard-Fans in diversen Reddit-Foren überlassen kann. Die aber im Prinzip nichts an der Tatsache ändert, dass es ist, was es ist: ein sehr gutes Album.

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