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Publikum auf einem Festival

Patrick Muennich

verena bogner

Wie sehr darf man auf Konzerten durchdrehen?

Die Freiheit eines Fans auf einem Konzert endet da, wo sie den Konzertgenuss der anderen einschränkt, oder? Darüber wird auf TikTok gerade wild diskutiert.

Eine Kolumne von Verena Bogner

Zu welcher Art von Konzert-Fan gehörst du? Bist du der, der die ganze Show über das Handy in die Luft hält, um mitzufilmen und sich die Videos dann nie mehr anzusehen? Stehst du einfach nur regungslos da und klatschst maximal nur dann mit, wenn der Artist auf der Bühne dich dazu auffordert? Oder bist du die Art von Fan, die komplett durchdreht, sich die Seele aus dem Leib schreit, vielleicht sogar vor Aufregung weint und sich mit Traubenzucker gegen den Kreislaufzusammenbruch wappnet?

Verena Bogner ist freie Journalistin und Autorin und schreibt gerade an ihrem ersten Buch. Sie liebt Mainstream-Popkultur und findet, es gibt keine Guilty Pleasures.

Darüber, ob letztere Gruppe eine Daseinsberechtigung auf Konzerten hat oder allen anderen Besucher*innen rundum in Wahrheit nur das Konzert versaut, wird auf TikTok gerade eine hitzige Debatte geführt. Grund dafür ist das virale Video eines kreischenden und vorfreudigen Taylor-Swift-Fans, zu dem die Userin schrieb: „Als ich Taylor das letzte Mal auf Tour gesehen habe, hat uns die Mom neben uns gebeten, uns zu beruhigen, weil wir ihrer 7-Jährigen Angst machen würden. Wir sehen uns morgen, @taylorswift. Mir tut die Person leid, die neben mir stehen wird.“ Für die TikTokerin Sophie Bradley ist die Sache jedenfalls klar: Sie wird weiter kreischen, egal, was die Konzertbesucher*innen neben ihr dazu zu sagen haben.

@sophienbradley See you tomorrow @taylorswift ! I feel bad for whoever is next to me #eras #erastour #swiftcity #glendale #midnights #taylorswift #taylornation @taylornation ♬ original sound - Sophie

In den Kommentaren zum Video entbrannte eine Diskussion zum Thema Konzert-Etikette. Viele empfanden das Verhalten der TikTok-Userin als maximal rücksichtslos und egoistisch – andere wiederum bestärkten sie in ihrem Verhalten. „Auf einem Konzert muss man schreien und mitsingen“, heißt es da zum Beispiel. „Ich könnte es ja verstehen, wenn es sich um ein kleines, intimes Setting handeln würde. Aber das ist ein Stadion mit 60.000 Menschen, und ihr wollt mir sagen, dass Schreien verboten ist?“, kommentiert eine andere Userin.

Ein TikTok-Nutzer veröffentlichte eine Antwort auf das virale Video, das selbst wiederum viral ging. „Man entscheidet sich für einen Weg: Entweder man besteht darauf, dass man Geld für das Ticket gezahlt hat, und sich deswegen benehmen darf, wie auch immer man will. Oder man sagt: Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir uns auf gewisse soziale Normen geeinigt haben.“ Für den Creator des Clips ist das Verhalten der Konzertbesucherin ein Beweis für die „Boomerification der Gen Z“, die laut seiner Einschätzung in Sachen Entitlement der älteren Generation aktuell Konkurrenz mache. „Als Millennial habe ich vielleicht auch schon mal wie verrückt geschrien, aber wenn mich jemand darauf ansprechen würde, würde ich mich schämen, bis ich sterbe“, stimmte ein*e andere User*in dieser Theorie zu.

@tellthebeees #eras #erastour #taylorswift #swiftie #genz #millennial #discourse #tellthebeees ♬ Bejeweled - Taylor Swift

Ich selbst war in den letzten Jahren auf einigen großen Konzerten, auf die ich aufgrund von Corona-Verschiebungen jahrelang hingefiebert habe. Die Show von Dua Lipa in der Stadthalle im Mai 2022 war das erste große Konzert seit Beginn der Pandemie, das meine Freund*innen und ich besucht haben, – und ich möchte mich an dieser Stelle bei den Menschen entschuldigen, die neben uns stehen mussten. Denn an diesem Abend haben wir all unsere Lockdown-Depressionen in Jubelschreie und Cardio-artige Tanzmoves verwandelt, von denen ich nicht wusste, dass sie überhaupt in uns schlummerten. Deswegen kann ich bis zu einem gewissen Grad mit der TikTok-Userin fühlen, die mit ihren Schreien für Diskussionen sorgt. Gerade bei Superstars wie Taylor Swift werden die Konzerte außerdem zu Happenings hochstilisiert, zum einen, weil die Tickets schweineteuer sind, zum anderen, weil die Superfans derartiger Acts regelrecht für ihre Stars leben und sich nichts Größeres vorstellen können, als ihr Idol live zu sehen. Wie kann man da nicht durchdrehen?

Und es ist doch so: In jeder Konzert-Venue gibt es verschiedene Publikumsbereiche. Wenn ich auf eine Show gehe, kann und sollte ich mir zumindest im Vorhinein überlegen, wo ich stehen oder sitzen will. Oder du suchst vor Ort nach Gleichgesinnten: Du wirst die Superfans und die Casual Fans wahrscheinlich auf den ersten Blick voneinander unterscheiden können.

Und schon scheint die Frage nach der Konzert-Etikette gelöst: Stehst du bei Beyoncé im Golden Circle neben Menschen, die für ihre Tickets einen Kredit aufgenommen haben, dann stopf dir noch schnell zwei kleine Taschentuch-Kügelchen in die Ohren und schrei mit. Und wenn du mit den völlig überdrehten Fans wie den Swifties eher nichts zu tun und das Konzert auf eine andere Art und Weise genießen willst, dann stell dich doch ein paar Reihen weiter hinten hin – oder check dir einen Sitzplatz. Es darf und soll beide Gruppen von Menschen auf Konzerten geben: Die, die drei Tage danach noch heiser sind, und die, die einen besorgt anblicken, wenn man schreit, als gäbe es kein Morgen. Sie müssen nur vielleicht nicht direkt nebeneinander stehen.

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