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Tisch im holländischen Lokal

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

„Du sagst genau, was Suella Braverman sagt“

Begegnung mit einem irakischen Kellner in einem niederländischen Tapas-Lokal. Und wie ich dabei den Job der britischen Innenministerin erledigte.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Manchmal muss man ihr auch entfliehen, der englischen Einschicht. Nach ein paar dicht gefüllten Tagen in Berlin machten wir (man will ja nicht fliegen, wo’s sich vermeiden lässt, schon gar nicht, wenn man stattdessen all die tollen Städte in Holland und Belgien sehen kann) in S’Hertogenbosch in Holland Rast, wo vor 550 Jahren oder so Hieronymus Bosch in seinen Visionen der Hölle die Existenz Boris Johnsons als Menschen am Spieß grillender Dämon vorausgeahnt hat.

Bild von Hieronymus Bosch mit einem Boris Johnson ähnlich sehenden Dämon

Robert Rotifer

Wir kamen zu spät an, landeten nach dem naiven Versuch, einmal aus purer Algorithmus-Verweigerung ohne Online-Booking ein Bett für die Nacht zu finden, in einem überpreisten Plüsch-, Quasten- und Stukkatur-Boudoir und ließen uns zum Abendessen die Tapas-Spelunke gegenüber empfehlen, wo man per QR-Code und verführerisch bebildertem Klick-Menü für Dauerstress in der gnadenlos offenen Küche sorgt (Innendesigner*innen, lasst die Köch*innen doch unbeobachtet kochen, ihr wollt schließlich auch nicht, dass wir euch beim Arbeiten über die Schulter in den iMac starren).

Der junge Kellner, der uns ständig neue Tellerchen an den Tisch brachte, erklärte sein Bedauern, kaum Englisch zu können. „Kein Grund zur Entschuldigung, wieso sollten Sie auch, wir sind schließlich in Holland“, sagte ich zu ihm, natürlich erst recht auf Englisch, und wir entwickelten bald eine Art von radebrechender Vertrautheit, die ihn beim Zahlen zum Brechen der Vierten Wand unseres Gast- und Personal-Laienspiels inspirierte.

Wo wir herkämen (darauf komplizierte Antwort zwischen Wien und Canterbury).

„Ich weiß, das wird jetzt gar nicht richtig klingen“, bohrte er nach, „aber wie ist denn England so?“

Darauf meine wahrheitsgemäße Antwort, wie es sich anfühlt, in einem Land ohne funktionierendes Rettungs- und Gesundheitssystem in die potenzielle Schlaganfall- und Herzinfarktszone seiner irdischen Existenz zu schlittern. Er glaubte sichtlich kein Wort davon. „Jedenfalls sicher nicht besser als hier", sagte ich.

„Ich halte es hier nicht aus", kam es überraschend unverblümt zurück, "Ich könnte nach Deutschland gehen, aber dort mag ich auch nicht hin. Ich will nach England und von dort aus nach Kanada, das ist das beste Land der Welt.“

„Wo kommen Sie denn her?“

„Aus dem Irak. Ich habe keinen Pass, und es ist hart hier. Also, es ist schon okay, aber... es ist hart (Asylwerber*innen genießen in Holland, im Gegensatz zum UK, immerhin automatische Arbeitserlaubnis). Sehen Sie die Köchinnen arbeiten? (hinter seinem Rücken kreisten zwei junge Frauen hektisch durch den Küchendampf) Die sind aus der Ukraine. Sie werden auch furchtbar behandelt. Ich meine, im Vergleich zu sonstwo ist es wahrscheinlich besser, aber es ist immer noch furchtbar.“

Wie gesagt, sein Vokabular war rudimentär, aber es war leicht zu verstehen, was er meinte. Wenn er keinen Pass habe, fragte ich, wie wolle er dann nach England kommen?

„Ich habe Freunde dort, die sagen mir, es ist ganz einfach, überhaupt kein Problem.“

„Also mit einem Boot?“

Er nickte und setzte ein optimistisches Lächeln auf. Wir versuchten ihm zu erklären, dass das gar keine gute Idee sei. Erzählten ihm von den tödlichen Gefahren des Durchquerens eines der verkehrsreichsten Seewege der Welt per Gummiboot und von der Hysterie des britischen Politik- und Mediendiskurs zum rassistisch/xenophob aufgeladenen Thema der vorgeblichen „Invasion“ kleiner Boote, künstlich aufgeschaukelt, indem man erst recht alle anderen möglichen Routen für Asylanträge schließt.

Dass die britische Regierung das direkt daraus resultierende Schlepperwesen über den Kanal als permanenten Krisenherd absichtlich auf Flamme halte, um bei Bedarf von anderen Dingen wie etwa obigem Niedergang des Gesundheitssystems abzulenken bzw. um den gestrandeten Verzweifelten die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, was wiederum die immer häufiger werdenden Attacken des Mobs auf deren Unterkünfte ermutige.

Er hörte sich das an, wirkte aber gänzlich unbeeindruckt, also klickte ich die bunten Tapas-Bilder der Speisekarte auf meinem Telefon weg und zeigte ihm stattdessen Artikel über die Fälle von Diphtherie und anderen gefährlichen Krankheiten in den unhygienischen, gedrängten Flüchtlingsunterkünften der britischen Regierung, über aktuelle Pläne, Asylsuchende in schwimmenden Auffanglagern auf dem Meer gefangen zu halten, sowie über Zwangsdeportationen nach Ruanda, und wie die britische Regierung es darauf anlegt, Einsprüche des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs dagegen mutwillig zu übergehen.

Beim Anblick des traurigen Containerschiffs mit den schmalen Fenstern drin begann sich die Miene des Kellners dann doch zu verdüstern. Aber er wolle ja auch nicht wirklich nach England, sondern nur von dort aus nach Kanada, sagte er.

„Aber stattdessen kommen Sie nach Ruanda“, setzte ich nach, „Und überhaupt: Wenn Sie keinen Pass haben, wie wollen Sie dann von England nach Kanada kommen? Wohl nicht mit dem Flugzeug?“ Er schwieg mich vielsagend an. „Also auch per Boot? Ich kenne niemanden, der mit dem Boot nach Kanada gefahren ist, aber wie wollen Sie das anstellen?“

Und dann wurde mir mit einem Blick in seine triumphal in meine Richtung starrenden Augen klar, dass meine Skepsis für ihn bloß eine Form von Bestätigung darstellte. Weil er in einer Lage ist, die er mit radikalen Mitteln radikal verändern will, und zwar am besten auf eine andere Art als der Rest der Karawane, über eine Route, die andere für zu riskant oder unmöglich halten. Eine Route, an die auch seine behördlichen Jäger*innen nicht denken würden, also genau das, was er sucht.

„Ehrlich“, sagte ich zu ihm, „Ich mag Sie, also überlegen Sie sich das, ernsthaft. Hier scheinen Sie wenigstens sicher zu sein, und ich will nicht, dass Ihnen auf dem Weg nach Großbritannien was zustößt, oder dass Sie dort in einer engen Zelle auf einem Schiff verrotten.“

Ich fürchte, ich hab ihm dann auch noch sanft und gönnerhaft auf die Schulter geklopft, und als wir das Lokal verließen, drehte ich mich noch einmal um und sagte: „Vergessen Sie nicht, dass es die Briten waren, die damals in den Irak einmarschiert sind!“

Das schien ihn ein wenig nachdenklich zu stimmen – er war vermutlich erst ein Baby oder vielleicht noch nicht einmal am Leben, als vor zwanzig Jahren der Irak-Krieg los ging – aber mich selbst auch.

Was hatte ich ihm damit eigentlich sagen wollen? War es aus seiner Sicht denn nicht vielmehr völlig rechtens und logisch, von gerade dem Land, das behauptet hatte, den Irak seiner Bevölkerung zuliebe zu bombardieren, Schutz zu erwarten?

Wir schliefen schlecht in dieser Nacht in unserem Plüsch-, Quasten- und Stukkatur-Boudoir. Ich wünschte, ich hätte die Idee gehabt, den irakischen Kellner mit einer der fähigen britischen Flüchtlingshilforganisationen in Kontakt zu setzen, die ihm erklärt hätten, wie seine Chancen stehen, vielleicht sogar auf arabisch.

Und J. sagte, sie fühle sich schlecht dabei, dass wir ihm gegenüber genau die von der britischen Regierung gewollte Linie unterstützt hatten: Durch möglichst unmenschliche Behandlung der Asylsuchenden ihr Kommen zu entmutigen.

„Du hast zu ihm genau das gesagt, was auch (die britische Innenministerin) Suella Braverman sagt“, meinte J., und meine eigene Verärgerung über diesen Vorwurf sagte mir, dass sie damit wohl recht hatte.

Trotzdem: Sollten wir ihn wider unser besseres Wissen ungewarnt sein Leben riskieren lassen, im Glauben daran, was ihm seine „Freunde“ (vermutlich selber Schlepper) sagen?

Am nächsten Morgen ging ich zurück zum Tapas-Lokal, um den Kellner noch einmal zu sprechen, aber natürlich war’s noch zu. Der Spaziergang zur Hieronymus Bosch-Ausstellung und der Rest des Heimwegs fühlten sich nicht so unbeschwert an wie der vorangegangene Teil unserer Reise. Bloß weil wir auf mildeste Art mit der anderen Seite der Existenz in den Hinterzimmern und Restaurantküchen innerhalb der Festung Europa konfrontiert worden waren, mit ihren herausgeputzten Fassaden und ihrer feinmanikürten Geschichtspflege. Mit ihrer Parallelgesellschaft der Heimatlosen, die in Holland wenigstens offenbar nicht illegal arbeiten müssen und sich trotzdem – wohl zurecht – als ausgebeutet empfinden. Und die daher Trost und Hoffnung in Strohhalmen und Gummibooten suchen.

Stimmt schon, liberales Schuldgefühl ist lahm, aber es ist auch unausweichlich und besser als gar keins.

Grenzposten in Calais

Robert Rotifer

„Und warum wollen Sie ins UK?“, fragte dann am Fährenhafen in Calais die Beamtin der britischen Border Force. „Weil wir da wohnen“, sagte ich.

„Ach, sie wohnen da“, sagte sie, obwohl ich natürlich wusste, dass sie auf ihrem Bildschirm genau sehen konnte, dass J. und ich unseren „Settled Status“, die Aufenthaltsbewilligung für vor dem Brexit eingewanderte EU-Bürger*innen besitzen.

„Und, wo waren Sie in Europa?“

„Frankreich, Belgien, Deutschland, Holland.“

„Schönes Wetter gehabt?“

„Nein, es hat fast andauernd geregnet.“

„Danke“, sagte sie und reichte mir die Pässe zurück.

Grenzposten in Calais

Robert Rotifer

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