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Filmstills aus "Beef"

Netflix

Der Wut freien Lauf lassen: „Beef“ ist eine Serie des Jahres

Einen banalen Road Rage als Ausgangslage nehmend, macht Lee Sung Jin in seiner Miniserie „Beef“ die ganz großen Themen des Lebens auf und lässt es dabei ordentlich krachen. Selten war Existenzialismus so unterhaltsam.

Von Jan Hestmann

Zwei Grantler geraten mit ihren Autos aneinander und machen sich in der Folge gegenseitig die Hölle heiß. So könnte die Ein-Satz-Zusammenfassung der neuen Netflix-Serie „Beef“ lauten, die es in zehn knappen Folgen ordentlich krachen lässt. Darüber hinaus hat „Beef“ aber noch viel mehr zu bieten und ist zurecht gerade eine Serie der Stunde. Am Anfang steht ein folgenreiches Hupen. Das kommt von einem weißen SUV, hinter dessen Steuer Amy Lau (Ali Wong) sitzt. Es gilt Danny Cho (Steven Yeun), der seinen abgewrackten Pickup etwas zu unbedacht aus der Parknische herausmanövriert hat. Dem notorisch wütenden Danny brennt eine Sicherung durch und er beschließt, dem SUV hinterherzurasen. Das ist der Anfang des Beefs zwischen Amy und Danny, der noch apokalyptische Ausmaße annehmen soll.

In den letzten Monaten hat Netflix vor allem mit verschärften Nutzungsrichtlinien von sich reden gemacht - mit einer richtig guten Serie hingegen schon länger nicht mehr. Insofern ist „Beef“ für den Streamingriesen ein großer Glücksfall. Produziert wurde die US-Serie von A24, das lange schon als Gütesiegel für qualitative Indie-Produktionen steht, die immer etwas anders sind als der Rest. Show-Creator ist der koreanische Regisseur Lee Sung Jin. Seine Serie ist dabei fast vollständig mit asiatischen Figuren besetzt, allen voran der ungeschickte Handwerker Danny und die emsige Unternehmerin Amy.

Filmstills aus "Beef"

Netflix

Amy Lau (Ali Wong) mit einer Vase ihres semi-begabten Künstler-Ehemanns George (Joseph Lee).

Amy Lau verkauft Pflanzen, und das sehr erfolgreich. Sie hat sich damit ein Imperium geschaffen, ganz aus eigener Kraft, anders als ihr Mann George, ein semi-begabter Künstler aus reicher Familie, der aber eine höchst wertvolle Sammlung an Designerstühlen von seinem Vater vererbt bekommen hat. Danny hingegen schlägt sich mit kleinen Jobs als Handwerker durchs Leben, ist dabei aber selbst mit zwei linken Händen gesegnet. Seine engste Bezugsperson ist sein jüngerer Bruder Paul (Young Mazino), mit dem er sich aber regelmäßig in die Haare kriegt. Auf den ersten Blick ist klar erkennbar: Amy und Danny leben in zwei völlig verschiedenen Welten, Ober- versus Unterschicht. Trotzdem haben sie eine Gemeinsamkeit, die sie verbindet. Sie sind chronisch unzufrieden, wütend auf sich und ihr Leben, es brodelt in ihnen. Als die eine Wut auf die andere prallt, ist die Eskalation unausweichlich.

„Western therapy doesn’t work on eastern minds“

„Beef“ ist eine herrlich schwarzhumorige Serie, erzählt mit einer packenden Dynamik, die sich von Folge zu Folge zu steigern weiß und in einem selten kuriosem Grande Finale gipfelt. Dabei ist die Serie aber nicht bloß Rage und Klamauk, und ganz nebenbei auch eine gelungene Satire auf den Kunstmarkt - hier werden gleich eine Vielzahl großer Themen aufgemacht. Identität, Selbstverwirklichung, Familie, Depression. Wir tauchen tief in die Gefühlswelt und die Wertesysteme unserer Protagonist:innen ein. Am Ende geht es um nicht weniger als den Sinn des Lebens. Darüber, wie wir leben wollen, wie unsere Gesellschaft von uns will, dass wir leben und wie sehr wir selbst überhaupt noch dieses Leben beeinflussen können. Grandios besetzt mit Steven Yeun und Ali Wong, aber auch bis in die kleinste Nebenrolle hinein. Als besonders spektakuläre Neuentdeckung ist Young Mazino zu nennen.

Filmstills aus "Beef"

Netflix

Danny mit Cousin Isaac (David Choe), der, wenn er nicht gerade im Gefängnis sitzt, gerne krumme Dinger dreht.

Spannend erzählt ist auch ein allgegenwärtiger Generationenkonflikt, am deutlichsten veranschaulicht an der Beziehung zwischen Danny und seinem Bruder Paul. Während der große Bruder Danny noch den veralteten Prinzipien und Traditionen seiner Eltern - wenn auch sichtlich erfolglos - hinterherhechelt („einen ordentlichen Job haben“, „eine koreanische Frau finden und eine Familie gründen“), so hat sich Paul von diesen Zwängen längst losgelöst und lebt einfach sein Leben nach seinen Vorstellungen.

Diese zur Schau gestellte Freiheit des kleinen Bruders frustriert Danny zunehmend, dem es selbst schwer fällt, sein wahres Ich zu finden. Seine Depression und seine mehrfachen Suizidversuche leugnet er, während er zu sagen pflegt: „Western therapy doesn’t work on eastern minds“. Hier wird wieder eine Gemeinsamkeit mit Widersacherin Amy Lau deutlich, die ihre Persönlichkeit hinter ihrem gutmütigen Ehe- und Hausmann zu verstecken versucht. Amys und Dannys mit immer härteren Bandagen geführter Schlagabtausch ist das nötige Ventil für ihren Frust und ihre Ängste - wenn dabei auch so einiges rund um sie in die Brüche geht.

Aus dem Vollen geschöpft wurde auch beim Soundtrack zur Serie, über den sich vor allem Millennials freuen dürften, ist er doch ein Sammelsurium aus Hits der Neunziger und Nuller Jahre. Wenn zum Abspann einer Folge das lallende „Self Esteem“ von The Offspring ertönt, ist das ein kurzweiliger Befreiungsschlag, wohingegen „Lonely Day“ von System of a Down oder Keanes „Somewhere Only We Know“ einem ruckzuck das Herz schwer werden lässt. Ein Soundtrack voller emotionaler Höhen und Tiefen, passend zur Berg- und Talfahrt, die „Beef“ für uns parat hält.

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