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White People Shouldn't Feel Guilty - Suella Braverman auf der Titelseite des Daily Express

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Die Wiederkehr des N-Worts

In London arbeitet eine dreitägige Konferenz an der Wiederbelebung der dunkelsten Ideologien des letzten Jahrhunderts in neuem Gewand. Und die konservative Regierungspartei ist eng involviert.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

„Was wir in unserem Leben tun, hallt in der Ewigkeit wider“, brüllte die Frau hinterm Rednerpult in den Saal hinein, so als wollte sie dem Halbrund des Auditoriums den Widerhall der Ewigkeit entlocken. „Also: Wird euer Leben hohl widerhallen zum Klang der feigen Heuchelei oder zu dem von Mut, Tapferkeit und Ehre? Die Wahl ist die eure, Kraft und Ehre sei mit euch allen.“

Tut mir leid, falls das den Leser*innen bekannt, aber irgendwie komisch vorkommt, denn ja, die Frau hinter dem Pult zitierte hier tatsächlich eine von Russel Crowe gehaltene Rede aus dem Film „The Gladiator“, aber natürlich im englischen Original, hier von mir vielleicht anders übersetzt als aus der Synchronfassung gewohnt. Nach diesen Worten wedelte sie mit dem rechten Zeigefinger in alle Richtungen und donnerte: „Now get yourselves to detention“ - „und jetzt ab mit euch zum Nachsitzen!“

Die Frau, von der ich schreibe, heißt Katharine Birbalsingh, sie hat sich unter anderem als Direktorin der „strengsten Schule Großbritanniens“ einen Namen gemacht, und ihr begeistertes Publikum waren die Teilnehmenden der National-Conservatism-Konferenz, die derzeit (vom 15. bis zum 17. Mai) im Londoner Emmanuel Centre – einen Steinwurf entfernt von den Houses of Parliament und der Westminster Cathedral – stattfindet.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Der Applaus war Birbalsingh hier sicher, nicht nur weil konservative Brit*innen wenig mehr lieben als den Archetyp der ultrastrengen Lehrerin (siehe die Popularität einer Margaret Thatcher), sondern weil ihre Botschaft genau den Geschmack der Versammelten getroffen hatte: „Wenn wir nicht die Kultur in den Griff bekommen, die in den Schulen verbreitet wird, werden wir unser Land verlieren“, hatte sie gesagt, „die Autorität der Erwachsenen ist längst verschwunden. Also, hier bin ich“, und bei diesen Worten schwang sie eine fiktive Bimmel durch die Luft, „und ich läute Alarm!“

Für eine Schuldirektorin genießt Birbalsingh ziemlich großen Einfluss. Die heutige britische Innenministerin Suella Braverman saß in ihrer Schule im Vorsitz des Elternvereins und auch sie sprach gestern bei derselben nationalkonservativen Konferenz.

„Da ist schon etwas Seltsames dran an unserem derzeitigen politischen Moment“, sagte Braverman, „wo man denjenigen unter uns, die unmodische Fakten vorbringen, modische Fiktionen um den Schädel wirft. Die ethnische Zugehörigkeit von Grooming Gangs (Ausdruck für Banden, die Minderjährige zu Sexsklav*innen heranzüchten, Anm.) ist jene Art von Tatsache, die in manchen Kreisen unmodisch geworden ist. Genauso wie der Fakt, dass hundert Prozent der Frauen keinen Penis haben.“

Der Hintergrund: Suella Bravermans tatsächlich faktisch falsche Behauptung, dass sexueller Missbrauch überproportional von pakistanisch-stämmigen Männern begangen würde, hatte erst vergangenes Wochenende dazu geführt, dass sie als ausgebildete Juristin wegen ihrer rassistischen Aussagen des Bruchs ihres Berufscodex bezichtigt wurde. Ihre Reaktion darauf war klassisch: noch einen drauflegen und bei der Gelegenheit gleich eine Verbindung zum Kulturkriegslieblingsthema Trans-Debatte herstellen, bevor sie sich anderen Lieblingsthemen wie Einwanderungspolitik, Wokeness und Political Correctness, zuwandte.

Heute landete sie mit ihrer Rede immerhin auf der Titelseite des Daily Express. Die Schlagzeile: „Suella: Weiße Menschen sollten sich nicht schuldig fühlen.“ Dazu als Erklärung: „Suella Braverman hat einen Treffer im Krieg gegen Woke gelandet, indem sie argumentierte, dass weiße Menschen keine kollektive Schuld wegen ihrer historischen Rolle in der Sklaverei empfinden sollten.“

White People Shouldn't Feel Guilty - Suella Braverman auf der Titelseite des Daily Express

Robert Rotifer

Nun ist der Express bloß ein rechtsrabiates Blatt mit relativ bescheidener Leser*innenschaft, aber wenn eine Innenministerin mit einer ideologischen Kampfansage eine volle Titelseite einfährt, dann hat das unzweifelhaft politische Relevanz.

In diesem Fall ist das Bravermans Positionierung als potenzielle Nachfolgerin Rishi Sunaks und ein Richtungssignal für die Zukunft der konservativen Partei: nicht weniger als der Vollzug ihrer unter Boris Johnson begonnenen Wandlung in eine durch und durch rechtsextreme Partei nach dem Vorbild der Republikaner in den USA.

Wo kommt sie also her, jene National-Conservatism-Konferenz, die Braverman als Plattform dafür dient?

Als Veranstalterin fungiert die Edmund Burke Foundation, ein rechter Think Tank mit Sitz in Den Haag, benannt nach einem von britischen Konservativen und Rechtslibertären bewunderten, anglo-irischen Staatsmann des 18. Jahrhunderts, tatsächlich aber eng verbunden mit der Trump-affinen amerikanischen Heritage Foundation, deren Präsident Kevin Roberts ebenfalls in London eine Rede halten durfte.

„Das Auftauchen des Nationalismus und des Populismus“, sagte er da, „ist eine Wiederkehr. Die Progressiven mögen einen Konservatismus des Establishment oder einen Scheuklappen-Libertarismus. Sie stellen sich gegen einen Konservatismus der Nation, weil man ihn nicht kaufen kann.“

Der erste Teil dieser Botschaft liest sich so plump, dass er glatt von einem Gegner der Konferenz formuliert hätte sein können. Aber Roberts ging noch weiter: „Manche bejammern unser Abweichen von Thatcher und Reagan. Aber es ist der nationale Konservatismus, nicht der Konservatismus der Konzerne, der das Banner von Reagan und Thatcher weiter trägt.“

Die paradoxe Widersprüchlichkeit dieser Aussagen liegt auf der Hand, aber Widersprüche sind wohl unvermeidlich in der Formulierung einer Ideologie, die ihren ebenfalls auf der Hand liegenden, historischen Namen, das gefährliche F-Wort, vermeiden will.

„Faith. Family. Flag“, der Glaube, die Familie und die Flagge, sagte der sturmfrisierte, blonde Cambridge-Professor James Orr, seien die drei F-Wörter, welche „die Elite nach dem Riechsalz greifen“ ließen, denn sie seien „ein Affront gegen ein viertes: die Freiheit. Nationale Konservative lehnen die Freiheit nicht ab. Aber wir erkennen, dass Freiheit ohne Zurückhaltung zur Transgression führt.“

In der Tat, es ist ein fünftes F-Wort, das einem dabei einfiele. Nicht zuletzt in Kombination mit den Worten einer anderen Rednerin, der konservativen Abgeordneten Miriam Cates: „Nichts von unseren philosophischen Schwärmereien oder politischen Vorschlägen wird irgendetwas Bleibendes bedeuten, solange wir nicht die eine über allem stehende Bedrohung des britischen Konservatismus und in der Tat der ganzen westlichen Gesellschaft ansprechen. Nein, es ist nicht der Klimawandel, nicht Russland oder China oder der Iran, es ist nicht die neo-marxistische Ideologie, die unsere Institutionen derart geschwächt hat, nicht die Inflation, Besteuerung oder schwache Produktivität. Es gibt ein wesentliches Ergebnis, in dessen Erzielung der liberale Individualismus komplett versagt hat, und das sind: Babies.“

Cates war nicht die einzige, die das Thema Mutterschaft und Vermehrung ins Spiel brachte: „Es werden nicht genug Babies geboren“, sagte auch Podcasterin Louise M Perry („Maiden - Mother - Matriarch“), „und das Klebepflaster der Massenmigration wird nicht mehr lange halten.“

Wie die anderen Redner*innen auch, brachte Perry dabei nicht von hemmungslos vulgären Stimmen der Rechten verwendete Kampfbegriffe wie das „Great Replacement“ konkret ins Spiel, sondern ließ sie lieber – mittels des Klebepflaster-Satzes, der Migration in ein Missverhältnis zur Fortpflanzung der „eigenen“ Bevölkerung stellt – unausgesprochen mitschwingen.

Ähnlich kodiert auch die Aussage der Podcasterin Alex Kaschuta: „Mein Aufruf an alle, die sich dem Konservatismus oder der Rechten generell verbunden sehen: Hört auf, euch erpressen zu lassen. Hört auf, eure Weltsicht zu kastrieren, indem ihr eine verlangsamte Version des Programms einer anderen Ideologie annehmt.“ Ziemlich abstrakt, aber nach dem Beifall zu schließen, wusste der Saal genau, wie das zu verstehen war.

Damit meine ich übrigens nicht, dass alle Teilnehmer*innen dieser National Conservatism Conference sich heimlich gern Faschist*innen nennen würden. Aus historischen Gründen vereinen sich hier – anders als in Italien, Deutschland, Österreich oder bestimmten Winkeln der USA – alle Zutaten des faschistischen Gedankenguts in der Gewissheit des eigenen Drüberstehens, wie der auch von der BBC immer wieder gern als Debattenteilnehmer geladene Journalist und Autor Douglas Murray in seiner Ansprache beim großen National-Conservatism-Gala-Diner in der Aula des Natural History Museum am Montagabend in erschreckender Offenheit ausführte:

„Nationalismus klingt verschieden, abhängig davon, in welchem Land man sich befindet. Nationalismus in Israel klingt anders als in Amerika, in Italien oder Nationalismus hier in Britannien. Aber der cordon sanitaire, den man bis in die jüngsten Jahre rund um den Nationalismus errichtete, existierte nicht, weil wir nicht der Idee der Liebe zum Land vertraut hätten oder weil in einem britischen Kontext irgendetwas am Nationalismus falsch wäre. Es kam alles daher, dass es ein Problem mit dem Nationalismus im deutschen Kontext gab (rhetorische Pause, Gelächter der Dinierenden). Und das ist einfach ein historischer Fakt. Ich sehe keinen Grund, warum jedes andere Land auf der Welt daran gehindert werden sollte, stolz auf sich selbst zu empfinden, nur weil die Deutschen zweimal in einem Jahrhundert Mist gebaut haben.“

„Mucked up“, ist das Wort, das Murray im Original als Euphemismus für zwei Weltkriege, Massaker und Holocaust verwendete. Und natürlich erntete der professionelle Provokateur damit heute einiges an einkalkulierter Entrüstung bzw. umso mehr Publicity.

Genauso wie oben erwähnte Tory-Abgeordnete Miriam Cates, die wörtlich eine antisemitische Verschwörungstheorie zitierte, indem sie den „Kulturmarxismus“ für die „Zerstörung der Seelen unserer Kinder“ verantwortlich machte.

Wofür sie wiederum der israelische Konferenzvorsitzende Yoram Hazony prompt in Schutz nahm, obwohl das Board of Deputies of British Jews Suella Braverman erst 2019 wegen desselben Sprachgebrauchs verwarnt hatte. Wir erleben hier also die bewusste Verschiebung des Sagbaren in Echtzeit.

Und selbst wenn bei dieser Konferenz, der so unterschiedliche Leute wie der Ex-Chef des britischen Geheimdiensts MI6 Sir Richard Dearlove, Regierungsmitglied Michael Gove, die selbsternannte „reaktionäre Feministin“ Mary Harrington, Ex-Linke wie Nina Power oder Frank Füredi, Eugenik-Fan und Verfechter der Redefreiheit Toby Young, der Hardcore-Brexiter und Leugner des Klimawandels Jacob Rees-Mogg, Ex-Brexit-Minister Sir David Frost, der Befürworter der Todesstrafe und stellvertretende Tory-Chairman Lee Anderson (wird morgen die Abschlussrede halten), der zum Trump-Jünger gewandelte Senator aus Ohio JD Vance und der kuschelige Überfremdungsgegner David Goodhart beiwohnen, am Ende kein gemeinsames Manifest hervorgebracht wird: Der bisherige Chorus ihrer Einigkeit darf verstören, gerade weil es sich hier um eine derart salonfähige, entgegen ihren Beteuerungen zutiefst establishment-taugliche Veranstaltung handelt.

Eine Veranstaltung, deren Titel jenen vorhin im Douglas-Murray-Zitat angeklungenen, großen Tabubruch in sich trägt, der dem rechten Playbook gemäß als nächstes wohl auch in anderen „zivilisierten“ Teilen Europas ins Haus steht, nämlich die volle Rehabilitierung des Nationalismus in Wort, Tat und damit all seinem im 20. Jahrhundert in Gestalt von Abermillionen Todesopfern bewiesenen Horror.

Ein furchterregender Satz noch zum Abschluss aus der Konferenzrede des konservativen Unterhausabgeordneten Danny Kruger: „Die konservative Partei ist die nationalistische Partei – oder sie ist nichts.“

Was für eine Riesenscheiße da noch auf uns zukommt.

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