„Der Widerstand der Frauen ist ungebrochen“
FM4: Was hat sich in diesem Jahr getan? Wie ist der Iran heute? Anders als vor einem Jahr?
Solmaz Khorsand: Ich glaube, wir müssen ein bisschen unsere Erwartungshaltungen in dieser Hinsicht verändern. Also wenn wir die Erwartung haben, dass eine Protestwelle im Iran sofort zum Sturz des Regimes führt, dann sind wir sehr unrealistisch. Also das Regime steht noch, die Islamische Republik steht noch, leider Gottes.
„Aber es hat sich viel getan in diesem vergangenen Jahr. Man erkennt es in den kleinen Dingen. “
Der Widerstand der Frauen ist ungebrochen. Also wir sehen sie, trotz dieser massiven Repressionen sehen wir extrem viele Frauen in sehr vielen Städten, in sehr vielen Vierteln ohne Kopftuch. Das klingt für uns vielleicht jetzt nicht so unglaublich revolutionär, aber das ist es. Also das bedeutet, dass sie sich da im Alltag eine revolutionäre Realität erkämpft haben, obwohl Sie wissen, dass sie dafür eingesperrt werden, vergewaltigt werden, verfolgt werden. Und sie machen es trotzdem.

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Solmaz Khorsand ist Journalistin, Kolumnistin und Podcasterin.
Vor der Uno City in Wien haben Aktivisten Hunderte Fotos – von politischen Gefangenen, von Getöteten – platziert, um alle daran zu erinnern, was im Iran passiert. Wie sieht die internationale Unterstützung für die Proteste im Iran aus, ist sie ausreichend?
Viele im Iran würden behaupten: Nein, definitiv nicht. Man wünscht sich mehr Support. Es hat sich aber mehr getan in dieser internationalen Bewegung als in vielen anderen Bewegungen, die im Iran stattgefunden haben. Es gab Patenschaften von Politikerinnen, die sich für politische Gefangene eingesetzt haben. Die UNO hat den Iran aus der Frauenrechtskommission gekickt und extra eine Task Force eingerichtet, um aktuelle Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Viele wünschen sich, dass die Revolutionsgarden auf die Terrorliste kommen. Das ist nicht passiert und viele wünschen sich auch, dass man auf internationaler Bühne auch sehr viel verstärkter gegen Regime-Angehörige vorgeht. In Schweden beispielsweise wurde zum ersten Mal ein Regimeangehöriger verurteilt und das könnte man auch in anderen Ländern machen.
Was wäre auf internationaler Ebene am dringendsten nötig?
Schwierig. Das ist eine Frage für Politikerinnen und Politiker. Aber natürlich müsste der Druck erhöht werden. Und eine der Maßnahmen wäre es beispielsweise, dieses Weltrechtsprinzip zu aktivieren, was bedeuten würde, dass man überall auf der Welt Regimeangehörige verfolgen kann. Das würde wahrscheinlich nicht gemacht werden wird, weil sehr viele wissen, wenn in Österreich, in Deutschland, in Schweden, in Frankreich iranische Regime-Angehörige vor Gericht stehen, dass das für ihre Staatsbürger ein Problem darstellen kann. Und der Iran ist sehr gut in seiner Geiseldiplomatie, auch im Ausland. Also sie kidnappen Menschen in Dubai, in der Türkei und bringen sie in den Iran und stellen Sie dort vor Scheingerichte.
Welche Bedeutung hat denn der morgige Todestag von Jina Mahsa Amini für das Regime und für die Aktivistinnen und Aktivisten?
Eine große - für beide Seiten. Im Vorfeld des Jahrestages hat das Regime mit einer extremen Einschüchterungswelle begonnen. Es wurden viele Frauenrechtsaktivistinnen inhaftiert und auch Angehörige, deren Familienmitglieder im vergangenen Jahr getötet worden sind und eingesperrt worden sind, sind auch eingesperrt worden dieses Jahr kurz vor dem Jahrestag. Und auch der Onkel von Jina Mahsa Amini wurde inhaftiert und ihr eigener Vater wurde viermal zum Geheimdienst zitiert und festgenommen und verhört.
Und das Interessante oder das Eindrucksvolle an dieser Protestbewegung und an den Iranerinnen und Iranern ist, dass sie trotzdem aufgerufen haben, an diesem Jahrestag auf die Straße zu kommen. Und auch ihre eigene Familie hat gesagt: Wir werden an diesem Tag ihrem Tod gedenken.
Hinzu kommen alle Freiheitskämpfer des Landes und die haben schon Ende August in einer Mitteilung geschrieben:
„Wir lassen uns nicht einschüchtern.“
Seit Juli ist die sogenannte Moralpolizei offiziell zurückgekehrt. Und es sind noch härtere Gesetze gegen die Aktivisten geplant. Warum scheint das Regime wieder in einer so starken Position zu sein?
Die Islamische Republik ist sehr stark. Es hat schon einen Grund, warum dieses Regime seit 44 Jahren an der Macht ist. Das ist ein extrem riesiger, aufgeblähter, aufmunitionierter, hochfinanzierter Sicherheitsapparat. Dieser falsche Ausdruck ist ein Repressionsapparat und wir haben hier eine Bevölkerung, die unbewaffnet ist, die friedlich protestiert. Und dass man sich jetzt vorstellt, dass diese Bevölkerung es in einem Jahr schafft, so ein Regime zu stürzen, ist, wie ich gesagt habe, etwas naiv und unrealistisch. Sie werden alle Hebel in Bewegung setzen, um an der Macht zu bleiben. Und das bedeutet einfach pure Gewalt. Und diese pure Gewalt wird sich in den nächsten Monaten Wochen definitiv potenzieren.

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Solmaz Khorand war zu Beginn der Proteste vor einem Jahr auch bei uns zum Interview. Wie sie die Proteste damals eingeordnet hat, kann man hier lesen.
Der Protest hat sich in seinen Anfängen hauptsächlich für Frauenrechte eingesetzt. Mittlerweile richtet er sich gegen das gesamte iranische Regime, ist er in seinem Kern noch immer ein feministischer Protest?
Es ist deswegen feministisch, weil es eine unglaublich inklusive Bewegung ist. Weil zum ersten Mal im gesamten Iran verstanden wurde und auch in der Diaspora, dass marginalisierte Gruppen über Jahrhunderte diskriminiert worden sind im Iran und dass sie immer schon die Speerspitze des Widerstands bedeutet haben. Und das ist insofern feministisch als dass man begriffen hat, dass, wenn eine einzige Person unterdrückt ist in einem Staat, dass alle unterdrückt sind.
Auch die iranische Wirtschaft leidet seit den Protesten. Einige Teile der Bevölkerung werden täglich ärmer. Wie kann sich die wirtschaftliche Lage auch auf die Protestbewegung auswirken?
Je schlechter die wirtschaftliche Lage ist und je verzweifelter die Menschen sind, umso weniger haben sie zu verlieren und umso eher werden sie sich auch dieser Widerstandsbewegung anschließen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Publiziert am 15.09.2023