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Ella Rumpf und Maria Dragus in "Tiger Girl"

Constantin

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Nonkonform und Uniform

Mit Gewalt und guter Laune ziehen zwei junge Frauen durch die Straßen Berlins. „Tiger Girl“ ist ein neonlichternes Stück Coolness in Filmform. Große Empfehlung.

von Pia Reiser

Es ist in meinem Beruf zugegebenermaßen gar nicht so einfach, aber es zahlt sich aus, um Trailer einen großen Bogen zu machen. Belohnt wird man dafür oft von einer Wucht, die einen überrollt sodass man vor Enthusiasmus erst mal nach Luft schnappen muss, weil man ja keine Ahnung hatte, in welchen Film man da in der Früh in der Pressevorführung hineinstolpert.

So passiert bei „Tiger Girl“. Irgendwas mit Teenagermädchen und Berlin, soviel wusste ich und auch, dass alle, die „Tiger Girl“-Regisseurs Jabok Lass’ Vorgängerfilm „LoveSteaks“ gesehen haben, begeistert waren.

Szenenbilder aus "Tiger Girl"

Constantin

Berliner Tank Girl

Berlin, dein Gesicht hat hier keine Sommersprossen, sondern Schrammen und blutige Krusten. Hier fliegen schon mal Baseball-Schläger durch die Luft und treffen auf Köpfe. Den Baseballschläger trägt Tiger (Ella Rumpf) mit „Tank Girl“-Attitude mit sich herum, als sie Maggie, eine junge Frau, die nachts in einer U-Bahn-Station von drei Männern bedrängt wird, zur Hilfe kommt.

Maggie ist durch die Aufnahmeprüfung bei der Polizei gerasselt und macht nun eine Ausbildung bei einer privaten Sicherheitsfirma. Hauptsache Uniform. Denn auch, wenn Regisseur Jakob Lass ansonsten die Finger von Genre-üblichen Psychologisierungen lässt, so dient die gut schultergepolsterte Uniform - und sei es auch nur eine Jacke, auf der in Großbuchstaben „Security“ steht - bei Maggie als Selbstbewusstseins-Substitut. Selbstermächtigung zum Anziehen.

An Tiger fasziniert dann Maggie ausgerechnet, dass es in deren Welt so etwas wie Sicherheit nicht gibt, stattdessen glitzern hier für Maggie verführerisch Anarchie, Gewalt, Nonkonformismus. Wie Teenager manchmal der Unfug in der Birne kitzelt und schnell die Grenze zum Wahnsinn überschritten wird, hat schon lange niemand mehr so fiebrig und faszinierend auf die Leinwand gebracht, vor allem ohne mit Erklärmodellen zu winken.

Szenenbilder aus "Tiger Girl"

Constantin

Höflichkeit ist Gewalt

Tiger, der androgyne Freigeist mit krimineller Energie, schläft auf einem Dachboden und geht untertags kleinen Abzockereien nach. Zu Beginn überleg ich noch, ob der Film ihr Verhalten mit Wohlstandsverwahrlosung oder Verwahrlosung ohne Wohlstand erklären wird und entschuldige mich nach dem Film im Geiste dafür. Erklärversuche, wer denn nur für Tigers Verhalten verantwortlich zeichnet, gibt es hier nicht. Denn im Gegensatz zu so vielen anderen Filmen will „Tiger Girl“ auch ein Film sein und keine Broschüre zum besseren Verständnis der Gesellschaft.

Du bist jetzt Vanilla, Vanilla the Killer, sagt Tiger zu Maggie und spuckt dabei zerkaufe Apfelstückchen durch die Luft. Vanilla muss von Tiger lernen, sich zu nehmen, was sie will, weil Höflichkeit ist eine Gewalt gegen sich selbst, so Tiger.

„Tiger Girl“ läuft seit 6. April 2017 in den österreichischen Kinos

Mädchen in Uniform

Und so zieht dieses Frauenduo mit Lust am Nervenkitzel durch Straßen und Parks und testet aus, wie sehr Passanten und Touristen einem gehorchen, wenn man eine Uniform trägt. Wie sich die Freude an Gewalt und Willkür in die zunächst noch so kontrollierte Mimik von Maggie schleicht ist so faszinierend wie unangenehm anzusehen. Wenn die beiden jungen Frauen in Slow Motion eine Straße entlanggehen und schließlich mit dem Baseballschkläger die Fenster eines Autos einschlagen, dann klatschen wahrscheinlich irgendwo die Droogs aus „Clockwork Orange“ Beifall. Doch „Tiger Girl“ ist keine poppige, überstilisierte Gewaltphantasie, der Film mischt Überhöhung mit Naturalismus und findet so seine eigene Tonalität. Angenehm anzuschauen ist das nicht immer - und das ist auch das Interessante dran.

Szenenbilder aus "Tiger Girl"

Constantin

Martial Arthaus

Dieser Film ist nicht adrenalinschwanger, sondern hat mindestens Adrenalindrillinge auf die Welt gebracht. Berlin ist neonerleuchtet und „Tiger Girl“ nimmt einen mit auf eine unvorhersehbare, gewaltige und gewaltäige Achterbahnfahrt. Jabok Lass pfeift auf Genrekonventionen und bricht festgefahrene Geschlechterrollen auf. Lässt zur Abwechslung mal Männer nackt sein ohne, dass das in der Szene nötig wäre. Und männliche Nacktheit im Film ist immer eine gute Erinnerung daran, wie völlig anders der Umgang mit weiblicher Nacktheit im Film ist. Maggie und Tiger bleiben stets angezogen, Tiger steckt in Camouflage-Leggings und Bomberjacken und Maggie trägt zwar noch einen braven Blouson mit Streifenpulli, doch ihr Grinsen spricht Bände. Sie grinst wie jemand, der sich die Rede des Jokers in „The Dark Knight“ ins Poesiealbum geschrieben und mit Herzen umrahmt hat.

Szenenbilder aus "Tiger Girl"

Constantin

Da es momentan keine Kommentarfunktion hier gibt, ich aber auf eure Kommentare, Lese- und Filmempfehlungen nicht verzichten möchte: pia.reiser@orf.at bzw Facebook-Freundschaft, yay!

Um in der Welt von „Tiger Girl“ zu bleiben: Der Film kickboxt die eigenen Erwartungshaltungen zu Boden, bricht eingekrustete Erzähl- und Figurenkonventionen auf und reisst einen mit mit seiner ungewöhnlichen Mischung aus improvisierten Dialogen und hochstilisierten Bildern. Ein Film so impulsiv wie seine beiden Hauptfiguren.

Soll man es Mumblehardcore nennen? Martial Arthaus schlägt Regisseur Jakob Lass vor und zeigt, dass da im deutschen Film zwischen Brachialhumor und strengem Bildungsbürgerkino Platz ist für Kino, in dem ein wildes Herz schlägt. „Tiger Girl“ ist ungezähmt und rastlos und erteilt dem deutschen Film eine Lektion in Sachen Coolness.

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