„Wissen, woran man glaubt“
Von Robert Rotifer
Ich habe hier rein gar nichts geschrieben seit dem Anschlag in Manchester. Es gibt Zeiten, da hat man fürs erste einmal nichts hinzuzufügen.
Ich kann freilich auch nicht so tun, als hätte ich mich selbst an diese Weisheit gehalten. Gleich am Tag nach dem Anschlag schieb ich schnell was für eine Tageszeitung, am Morgen drauf ließ ich mich von einem deutschen Radiosender dazu befragen, und jede meiner eigenen Thesen klang für mich selber wie eine Anmaßung. Was für ein komischer Beruf.
Gleichzeitig arbeitete ich - langsam, weil abgelenkt - an einer Geschichte für einen anderen deutschen Sender über die Eröffnung der Ausstellung „California – Designing Freedom“ im Londoner Design Museum.
Wirklich interessant übrigens, ich werde demnächst hier noch darauf zurückkommen.
Was mir von der dortigen Pressekonferenz an jenem Dienstagmorgen am Stärksten in Erinnerung bleibt, ist aber die zittrige Stimme der Museumsdirektorin Alice Black. „Traurigerweise leben wir in einer Welt, in der der Mensch zu den schlimmsten Gräueltaten fähig ist“, sagte sie, „aber auch zu den größten Errungenschaften.“
Ein Satz, der die Betroffenheit kompakt mit dem Übergang zur Tagesordnung verband. Es tat weh, ihr dabei zuzusehen. Man konnte es nachvollziehen, sie fühlte sich sichtlich nicht nach Design.
Am Montagabend war ich selbst, während sich in Manchester ein Arschloch in die Luft jagte, in einer dichtgedrängten Menge im Londoner Lexington gestanden. Jane Weaver stellte dort ihr neues Album „Modern Kosmology“ vor.
Zwei, drei Stunden davor hatte ich mich mit Weaver nebenan in ein indisches Restaurant absentiert, um mit ihr für meine nächste FM4-Heartbeat-Sendung darüber zu reden, wie ihr musikalischer Weg über je nach Zählung sechs oder acht oder mehr Alben bis zur schieren Anglo-Kraut-Analog-Synth-Pop-Brillanz dieser wunderbaren Platte führte.
Aber nachdem die Unterhauswahlen zu diesem Zeitpunkt nur zweieinhalb Wochen entfernt waren, kamen wir natürlich auch auf Politik zu sprechen.
Wie es sich so ergibt, lebt Jane Weaver in Manchester, zusammen mit ihren Kindern und ihrem Mann Andy Votel, dem DJ, Produzenten, Musiker und Betreiber der auf exotische Funde aus den Pop-Archiven aller Länder spezialisierten Firma Finders Keepers Records. Sie ist eine Frau mit offenen Augen und Ohren, und als solche dieser Tage nicht ganz sorgenfrei.
Natürlich hatte nichts von unserem Gespräch auch nur einen Funken der Vorahnung dessen in sich, was in jener Nacht in ihrer Heimatstadt passieren würde. Jane Weaver bezog sich vielmehr auf die oft wiederholte Halbwahrheit, der Norden Englands habe das Brexit-Votum entschieden (tatsächlich hat die Stadt Manchester – im Gegensatz zum Großteil des Nordens – zu 60 Prozent für „Remain“ gestimmt). Doch das vom Brexit freigesetzte aggressive Potenzial lässt sich schon auch in einem größeren Zusammenhang verstehen. Schließlich war das EU-Referendum auch nur ein Kanal, in den sich eine Unzahl von Gefühlen speiste.
„Es ist schwer, eine Beobachterin des Geschehens zu sein. Zu wissen, woran man glaubt, und dabei zuzusehen, wie die Leute rundherum von den Medien hinters Licht geführt werden“, sagte Weaver, „Nicht, weil sie dumm sind, sondern weil die Medien eben auf sehr ausgefuchste Weise arbeiten. Und wenn du in die Unterhaltungsindustrie involviert bist, hast du in bestimmte Dinge einen besseren Einblick. Du weißt, wie sowas abläuft.“
Was sie damit meinte, waren wohl die Versprechungen, die den Wähler_innen vor der Volksabstimmung gemacht wurden, aber auch Theresa Mays erfolgreiche mediale Inszenierung als die starke Frau, die Europa in die Knie zwingen wird, sowie die Darstellung der Labour Party unter Jeremy Corbyn als unwählbar bzw. der Konservativen als die eigentliche Heimat der patriotischen Working Class.
„Was mich traurig macht, ist, dass ich mich europäisch fühle,“ sagte sie dann. „Aber nicht bloß europäisch, sondern als Teil der Welt. Als Mensch. Wir kommen alle von irgendwoher, wir haben alle verschiedene Hintergründe, alle unsere Vorväter waren Immigranten, man muss das alles auf einer anderen Ebene betrachten.
Was jetzt hier abläuft, ist so abscheulich. Es erinnert mich an meine Kindheit in den Siebzigern und Achtzigern. Wir hatten den Minenarbeiterstreik, wir hatten die Toxteth Riots in Liverpool, die Brixton Riots in London, wir hatten Rezessionen, den Falkland-Krieg, und das war alles unter Thatcher. Und es erinnert mich an diese Zeit. Das war eine verwirrende, nicht besonders angenehme Zeit.
Das ganze Brexit-Ding und die Regierung... ich fühle mich nicht als Teil davon, und jetzt kommen auch noch die Wahlen auf uns zu. Das ist alles sehr beunruhigend für viele Leute, die schon lange Zeit in diesem Land leben (Tell me about it, Anm. des Autors). Sie sind verunsichert darüber, was das für ihre Zukunft bedeutet. Wie schlimm ist das denn? Es ist traurig und deprimierend, und manchmal kommt mir vor, in Großbritannien ist gerade alles völlig außer Kontrolle geraten.“
Es lässt sich nicht leugnen, dass der letzte Satz heute schwerer wiegt als zu dem Zeitpunkt, da Jane Weaver ihn aussprach.
Aber schon in den Tagen vor unserem Interview war etwas Erstaunliches passiert, das wir offenbar noch nicht ganz verarbeitet hatten. Der Wind im britischen Wahlkampf hatte sich gedreht. Nachdem sowohl Labour als auch die Tories gute Gründe hatten, nicht genauer nachzufragen, was der Brexit bringen wird, war das Thema auf mysteriöse Art aus der Wahlwerbung verschwunden.
Aus kontinentaler Sicht klingt das wohl völlig unvorstellbar, aber in diesen Wahlen, die schließlich mit der Begründung ausgerufen wurden, dass May sich in Brüssel auf ein Mega-Mandat des britischen Volkes stützen wolle, scheint es nun um alles außer Brexit zu gehen.
Während in Brüssel die Verhandler_innen auf ihren Händen sitzen und warten, dass Britannien sich endlich an den Tisch bemüht, geht die innerbritische Debatte am Elefanten im Zimmer vorbei und bedient sich am kalten Büffet traditioneller Themen, wenngleich zugegebenermaßen originell serviert.
So fordert Jeremy Corbyns Labour Party in ihrem Manifest ein Ende der Studiengebühren, mehr Geld fürs Gesundheitssystem, eine Rückverstaatlichung der Bahnen und der Wasserversorgung und höhere Steuern für die obersten fünf Prozent. Theresa May dagegen hat sich mit sinnlosen Ideen wie der Abschaffung des warmen Mittagessens für Volksschulkinder, der Legalisierung der unter Tony Blair weitgehend verbotenen Treibjagd auf Füchse sowie der posthumen Verpfändung von Eigenheimen zur Finanzierung der Altenpflege (empfunden als die Enterbung einer vom Immobilienmarkt ausgeschlossenen Nachfolgegeneration) ein paar völlig unerzwungene Eigentore geschossen.
Und es zeigte sich wieder einmal, dass politische Affinitäten bei britischen Journalist_innen weniger zählen als der Geruch von Blut. Niemand will sich die Blöße geben, den kritischen Punkt zu verpassen, wo der Hype nach unten kippt.
Ergo schrieben nun alle von einer „Demenzsteuer“ der Konservativen (die Pflege für Krebserkrankungen ist vom staatlichen Gesundheitssystem gedeckt, die für Demenz nicht), und als May sich zur Schadensbegrenzung wieder von ihrem eigenen Manifest zu distanzieren begann, wurde ihr Stabreim-Slogan „strong and stable“ prompt auf „weak and wobbly“ umgedichtet.
Der Premierministerin unerwartet frühe Demontage war gerade erst richtig in Schwung gekommen, die zuvor grottenschlechten Sympathiewerte ihres Labour-Rivalen Jeremy Corbyn unverhofft in den grünen Bereich gestiegen, als in Manchester die Bombe los ging (und natürlich gab und gibt es darüber seither die haarsträubendsten Verschwörungstheorien, mit denen wir uns hier nicht aufhalten wollen).
Als der Wahlkampf nun am Freitag, nach drei Tagen Pause aus Respekt vor den Opfern des Anschlags von Manchester, wieder aufgenommen wurde, war Mays Vorsprung in den Meinungsumfragen von einem Hoch von 24 Prozent seit Ausrufen der Neuwahlen auf bloß fünf Prozent gesunken.
Zum ersten Mal besteht jetzt eine realistische Möglichkeit, dass Labour nach dem 8. Juni nicht das angekündigte Debakel erleben, sondern stärker dastehen könnte als zuvor.
Ja, wenn der Trend bis zur Wahl so anhielte (und der Konjunktiv ist da immer noch sehr angebracht), könnte Corbyn unter Umständen am Ende gar gewinnen.
Vor zwei Wochen noch hätte die Autokorrektur mich das gar nicht schreiben lassen.
Vor diesem Hintergrund also hielt Labour-Chef eine Rede, in der er unter anderem folgenden Kommentar zu Manchester wagte:
„Viele Experten, einschließlich Profis in unseren Geheim- und Sicherheitsdiensten haben auf Verbindungen zwischen dem Terrorismus hier bei uns zu Hause und Kriegen hingewiesen, die unsere Regierung in anderen Ländern, wie etwa Libyen, unterstützt oder führt.
Diese Ansicht mindert in keinster Weise die Schuld jener, die unsere Kinder attackieren. Jene Terroristen werden für immer verachtet und unerbittlich für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden.
Aber ein aufgeklärtes Verständnis der Gründe des Terrorismus ist ein essentieller Teil einer wirksamen Reaktion, die die Sicherheit unseres Volkers beschützen wird. Und die Terrorismus bekämpft statt ihn mit Treibstoff zu versorgen.“
Ich könnte noch ein paar Absätze davon zitieren, nichts davon ist sonderlich kontrovers, aber der Subtext ist, dass Jeremy Corbyn wegen seines allzu freundlichen Dialogs mit Mitgliedern von Organisationen wie der IRA oder der Hamas in der britischen Presse gern als Verbündeter des Terrors dargestellt wird.
Diesen Ruf versuchen ihm die Konservativen nun wieder umzuhängen, aber man sieht bereits, es wird nicht aufgehen.
Besonders Interessierte können sich über diesen Tweet von Owen Jones hier zu einem Interview mit Verteidigungsminister Michael Fallon durchklicken. Der Moderator konfrontiert Fallon mit einem vermeintlichen Corbyn-Zitat über den Beitrag der britischen Außenpolitik zur Radikalisierung, Fallon verurteilt dieses aufs Schärfste, doch dann verrät der Moderator, dass das Zitat von Boris Johnson stammt:
This really can't be tweeted enough. This is a work of art. pic.twitter.com/X9d5CNtoQc
— Owen Jones (@OwenJones84) 26. Mai 2017
Jones hat recht, das ist eindeutig Kunst.
Obwohl, was weiß ich schon, was in den Tagen bis zum 8. Juni noch alles passieren kann. Bisher bin ich in meinen Vorahnungen bei diesem Wahlkampf so falsch gelegen wie schon lange nicht.
Was mich übrigens nicht im Geringsten stört, denn wie immer die Wahl ausgehen wird, die gefährlichen autokratischen Fantasien der Theresa May sind jetzt schon begraben.
Okay, ich sag doch noch was voraus: Nach den Wahlen gibt es ein Gemetzel unter den Konservativen. Wenn der rabiate Rod Liddle ausgerechnet im unverhohlen parteiisch konservativen Spectator schon während des Wahlkampfs eine Kolumne mit dem Titel This is the worst Tory election campaign ever veröffentlicht, braucht man dafür nicht den Kaffeesud zu konsultieren.
Was ich außerdem noch sicher weiß:
In meiner Sendung am Montag ab 22 Uhr auf FM wird oben erwähntes Interview mit Jane Weaver laufen. Samt einigen Songs aus „Modern Kosmology“, über das ich in dem ganzen langen Text hier bloß sieben Worte verloren habe.
Am Montag dann!
Jane Weaver
Publiziert am 28.05.2017