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Szene aus "The Dinner"

Tobis

Moral und Gesellschaft: „The Dinner“ ist eine große Zumutung

Wird in Kinofilmen zum Abendessen im Kreise der Familie geladen, bleibt ein Eklat nicht fern. „The Dinner“ eskaliert spät, aber beeindruckend erschütternd.

Von Maria Motter

Am Set habe eine „Energie der Hysterie“ geherrscht, erzählt die Schauspielerin Rebecca Hall im FM4-Interview, und diese Stimmung prägt auch den Film „The Dinner“, eine Adaption des Romans „Angerichtet“ des niederländischen Autors Herman Koch. Der gebürtige Israeli Oren Moverman hat die Handlung in die USA verlegt und einige Details verändert. „The Dinner“ ist eine der Geschichten, die einen plötzlich überrumpeln und vor eine schwerwiegende Entscheidung stellen. Was zählt mehr: Die eigene Familie oder die Gesellschaft? Lässt sich das überhaupt trennen?

Auf diesen Konflikt läuft „The Dinner“ hinaus. Dabei beginnt alles sehr amüsant – vorausgesetzt, man kann mit zynischem Humor etwas anfangen. Da ist der Geschichtslehrer Paul, der keinen Bock hat, seinen erfolgreichen Bruder Stan zum Abendessen zu treffen und am liebsten das letzte Wort hat, meist ist das ein misanthropischer, gewitzter Kommentar. Stan ist Senator und kurz davor, im amerikanischen Kongress ausreichend Stimmen für eine allgemeine Gesundheitsversorgung für psychisch Kranke zu gewinnen. Seine Assistentin ist nicht die Einzige, die an diesem Abend keine Ahnung hat, was vor sich geht.

Indie-Film trotz Star-Ensemble

Der Regisseur Oren Moverman hat bereits mit seinem Regiedebüt „The Messenger“ den Silbernen Bären der Berlinale 2009 gewonnen und kann auf zwei Oscar-Nominierungen für den Antikriegsfilm zurückblicken. Mit Todd Hayes hat er das Drehbuch zum Biopic „I’m Not There“ geschrieben, Cate Blanchett wurde im Film zu Bob Dylan. Movermans neuer Film „The Dinner“ zählt in den USA als „Indie“. Das überrascht angesichts der Besetzung mit einem tollen Steve Coogan und einer kaum durchschaubaren Laura Linney, einem überraschend erträglichen Richard Gere sowie Poker-Face Rebecca Hall.

Szene aus "The Dinner"

Tobis

Ein verbaler Schlagabtausch folgt auf den nächsten, während die anwesenden Ehefrauen der Männer versuchen, Contenance zu wahren. Aber niemand ist zum Vergnügen hier. Es sind die jugendlichen Söhne der beiden Ehepaare, die alle in eine Krise stürzen. Jemand hat eine schlafende Obdachlose angezündet.

Keine eindeutigen Monster und Helden

Was Oren Moverman über weite Strecken als Kammerspiel inszeniert, bevor die Handlung in Aktionen übergeht und zum Thriller anschwillt, ist eine kluge Auseinandersetzung mit der gut situierten Gesellschaft der modernen westlichen Welt. „Es geht um die Selbstgefälligkeit sogenannter Liberaler und darum, wie die Gesellschaft mit ihren Schwächsten umgeht. Und dafür gibt es im Film zwei Beispiele, ein offensichtliches und ein weniger offensichtliches. Es gibt keine eindeutigen Monster und keine offensichtlichen Helden in dieser Geschichte, jeder ist kompliziert. Für mich zeigt die Geschichte klar, wo die Welt gerade hinsteuert. Die Kollateralschäden, die Privilegien verursachen, werden gern übersehen oder einfach in Kauf genommen“, sagt die Britin Rebecca Hall, die in London und in New York lebt.

Mit psychischen Erkrankungen hat sich die britische Schauspielerin Rebecca Hall intensiv für ihre Rolle in Antonio Campos’ „Christine“ beschäftigt. Der Film ist ein Porträt vielschichtiger psychischer Erkrankungen und basiert auf dem Leben und Tod der US-amerikanischen TV-Moderatorin Christine Chubbuck.

Also wie steht es um Familie? Kommt die Familie an erster Stelle, die Gesellschaft an zweiter? „Die Familie ist politisch. Es gibt keine Trennung. Es ist nur ein Mikrokosmos, nicht wahr? Jeder Krieg beginnt damit, wie weit man für jemanden gehen würde, den man liebt. Unterm Strich sind wir Menschen Tiere, die überleben müssen. Und niemand weiß, wie weit er gehen würde, bis er bedroht oder konfrontiert wird“, sagt Rebecca Hall. „Manche kämpfen, manche fliehen.“

Und dann lacht niemand mehr

„The Dinner“ ist spannend, wird höchst unangenehm und zu einer großen Zumutung für das Publikum. Es gibt einen Moment im Film, ab dem kaum jemand mehr lacht. Weil plötzlich klar ist, dass mit einer Person am Tisch augenscheinlich etwas ist. Selten ist die Darstellung eines Charakters mit psychischen Konditionen derart differenziert und präzise, wie es Oren Moverman und dem Schauspieler Steve Coogan in „The Dinner“ gelungen ist.

Und das ohne Proben. Denn Oren Moverman macht keine Proben. „Ich will nicht wissen, was passiert, bevor es passiert. Und Schauspieler sind so viel besser, wenn ein gewisses Risiko im Spiel ist und wenn sie nicht ganz genau wissen, wann wer was sagen wird“, erklärt der Drehbuchautor und Regisseur seine Arbeitsweise im FM4-Interview.

Offensichtlich ist Movermans Haltung, sie spiegelt sich in den Geschichten, die er ins Kino bringt. Es geht um Rassismus, die Privilegien Weißer, Klassismus und darum, was passiert, wenn Geschichte außer Acht gelassen wird und nur das vermeintlich gute Leben im Moment und gerade noch dem Moment danach zählt.

„In den USA ist viel von einer Post-Wahrheit-Gesellschaft die Rede. Ich denke aber, wir leben in einer Zeit nach dem Humanismus“. Oren Moverman

„Gelebter Humanismus schwindet aus mehreren Gründen. Einer der Gründe ist, dass wir uns mehr und mehr in unsere Kreise zurückziehen, wir bleiben unter uns in unseren Familien, mit den Menschen, die unsere Meinung oder welche Loyalität auch immer wir für uns schaffen teilen. Sobald man so lebt, ist die Gefahr groß, dass andere weniger als Menschen gesehen und behandelt werden. Das Mitgefühl für andere schwindet und vielfach scheinen die anderen nicht mal mehr deine Gnade zu verdienen.“ Was ist Oren Movermans Antwort darauf? „Die einfachste Antwort ist Bildung. Die USA ist besonders arm, was Bildung angeht. Im Zeitalter der Digitalisierung haben wir mehr Zugang zu Information als je zuvor und die Menschen wissen weit weniger als zuvor. Humanismus und Mitempfinden darf man nicht als gegeben erachten. Es ist nichts verkehrt daran, das zu lehren. Meine Befürchtung ist – als jemand, der sich immer viel zu viel ausdenkt –, dass das erst nach etwas derart Katastrophalem passieren wird, dass die Notwendigkeit offensichtlich wird.“

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