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Menschen beim Nova Rock

Patrick Wally

Nova Rock Festival

Dominanz der Düsternis

Beim Nova Rock Festival treffen sich schwitzende Bartträger, tätowierte Amazonen und alte und neue Haudegen wie Good Charlotte, Pendulum oder Blink 182.

Von Boris Jordan

Wohlgeordnet und ein wenig umgeordnet präsentiert sich das bekannte Gelände am zweiten Tag des Nova Rock Festivals. In der prallen Sonne herumschlendern, Hüte probieren, durch den „Highway to Hell“ mit Bandana vor der Nase, nette Leute, die einen mit Wasser bespritzen und sich bemühen, nicht schon vor Mastodon betrunken zu sein. Es herrscht gute Stimmung.

So wars gestern, am ersten Tag:

Linkin Park und Fatboy Slim eröffneten am Mittwoch das diesjährige Nova Rock: Welcome to the Wastelands

Falls wer fragt: Ich freue mich immer wieder über das hier zahlreich vertretene, hübsche Service-Paradoxon „vorübergehende Tätowierung“. Ich als Tattoofeind begrüße diese Entwicklung weg von Gelöbnis hin zu Verkleidung. Und ja, ich bin auch für Analogkäse, falls danach auch wer fragt.

Avatar

Was soll man über Hitze oder Staub sagen, wenn einen gleich der Harlekin des Todes empfängt. Avatar nennt sich die kostümierte Openerpracht. Dass so eine ausgedachte Rummeltruppe nur aus Schweden kommen kann, dem Land aus dem augedachte Rummeltruppen nicht selten stammen, wundert niemand.

Die Uniformen von Avatar sehen so aus, als ob sie zufällig oder per Losentscheid aus einem Theaterfundus entnommen wurden, eine Mischung aus Piratenkostüm und Rokoko-Livree. Diese Mischung beschreibt auch deren Musik, sie hat das schwere Theaterhafte des Metal und das schrille unernst-Theaterhafte des Glam. Die ganze Truppe verweist auf die nicht weit entfernten Ghost, auf Queen und Slade ebenso wie auf Prinzessinnenmusicals und die dunklen Todesmetalgötter ihrer Heimat.

Nicht der schlechteste Opener für ein Nova Rock, das sich zugleich traditionell und vielschichtig präsentieren will wie nie.

Suicidal Tendencies

Am schon tradtionell gewordenen Nachmittagsslot darf man heute wiedermal Gründerväter kennen lernen. Mike Muir hat einiges Erfunden, ohne das man sich einen modernen Haushalt heutzutage gar nicht mehr vorstellen will: Das Bandana unter der Baseball Kappe, der Grant darüber, wie sehr man in seiner Individualität von Bullen und Spießern eingeschränkt wird, das selbstgemachte Bandlogo, das hunderttausende dazu inspiriert hatte, ihre Schulhefte und Sabberlatze selber mit dem Wort „Selbstmordneigungen“ zu verzieren, das weinerliche Jammern darüber, wie sehr man in seiner Individualität von Bullen und Spießern eingeschränkt wird ...

... und natürlich Thrashmetal und Skatepunk, sowie die Selbstverständlichkeit, mit der seitdem Metal und Punkrock trotz aller ideologischen Unterschiede zusammen genannt werden. Vor Muir war man als jeweils anderes Sektenmitglied auf dem falschen Konzert schon mal verprügelt worden. Der Tanz der Suicidal Tendencies zwischen Speed und Doom, zwischen Wutgeschrei und Plauderrap, zwischen superschnell und dröhnend langsam, funktioniert immer noch auf eine erstaunlich frische Art. Vielleicht auch, weil seit neuestem am Dirigenten-Drumkit niemand geringerer als der große Dave Lombardo sitzt.

Ob diesem weltweiten Festivalzirkus langsam die Bands ausgehen? Wie viele Nachwuchs-Hardrock Truppen hat man auf den Headliner-Plätzen gesehen? Welche der Bands dieses Festivals waren noch nie Nova Rock-Gäste gewesen? Die Erfinder des Metal, wie wir ihn heute als normal empfinden, etwa Slayer oder Metallica, gibt es sämtlich etwa schon so lange, wie AC/DC-Sänger Bon Scott tot ist.

Für das andere Standbein des Rockfestival- Zirkus, die kalifornische Version des Fun Punk, gilt das selbe. Bad Religion und NoFX sind ebenfalls Gründungen der Achtziger-Jahre, ihre Kinder Green Day, Offspring, oder Rancid sind nur wenig jünger. Irgendwann macht die letzte Band aus einer als „klassisch“ empfundenen Zeit - und nur solche scheinen headlinertauglich zu sein – den Sargdeckel zu. Ob sich dann 50000 vor den alten Wolf Alice drängeln?

Shame

Am Besten, ihr vergesst das wieder: Shame sind stylish und jung, selbstbewusst und energetisch, sie sind so arrogant, wie es sich für stylische junge Engländer gehört. Unlängst sollen sie von der britischen Musikpresse als „beste britische Liveband" bezeichnet worden sein – was allerdings schon öfters vorkommt.

Ihre jungenhafte Modkleidung und ihr anämischer Teint heben sie schon optisch ab von all den Muskelprotzen im Mechanikerlook. Ihre Musik hat viel von dem, was in England zeitgleich mit den Suicidal Tendencies entstanden ist, von Gang Of Four und The Fall, auch Krautrock und früher Blue Eyed Funk ist nicht fern. Kollege C. ist überzeugt: das ist die beste Band des Tages, von hier es kann nur mehr schlechter werden.

Me First & The Gimme Gimmes

So ist es allerdings auch wieder nicht. Der bierlaunige Freizeitspaß des Witzbolds Spike und seiner Freunde, sämtlich aus Mitgliedern von Lagwagon, No Use For a Name, und heute auch Bad Religion zusammen gesetzt, ist bei bierlaunigen Freizeitevents wie diesem immer eine Bank. So sieht man schwitzende Bartkrieger und tätowierte Amazonen fröhlich herzeigen, dass auch sie „Rocket Man“ und „Uptown Girl“ seit Ferienlagertagen auswendig mitgrölen können und dies auch gerne tun. Die absichtlich zotige und schmierige Performance dieser alten Hardcore-Helden - inklusive der netten Wortkreation „Nickles Dwarf“ für unsere Jazz-honorige Gastgebergemeinde - erlaubt es ihnen … und dann auch noch „Take me home, Country Roads“, my ass.

Good Charlotte

Die Boyband des späten Hardcore, Good Charlotte, gibt es auch schon 20 Jahre. Das Boyband-Image haftet an ihnen, mitschuldig ist wohl auch die Tatsache, dass die Good Charlotte-Zwillinge dereinst zugleich mit Nicole Richie und mit Paris Hilton liiert waren, ein herkulischer Aufwand für eine kleine Melodiepunk-Band. Der eine ist immer noch mit Nicole Richie verheiratet, was eine Festivalgeherin zu dem Transparent „Joel, leave Nici for me“ inspiriert hat. Auch hier – und ohne ironisches Schutzschild – grölen die Krieger und Amazonen fröhlich die Gassenhauer-Chants ihrer frühen Jugend, ein guter Spaß, gegen den auch Charlotte nichts einzuwenden hat.

Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass hier nur Knittelvers und Dominantseptakkord dominieren: Dillinger Escape Plan, Mastodon oder Gojiira kreieren auch heuer machtvoll ihre jeweiligen Varianten des Metal-Mahlstroms aus mörderischen Machtklängen, Mathematischen Melodiemolekülen, komplexen Taktwechseln, heroischen Build-Ups und vor Verzweiflung starrender Lyrik.

Diese Dominanz der Düsternis ist auch mit ein Grund, warum einem schillernden Hochglanzprodukt hybrider Künstlichkeit so zugejubelt wird.

Pendulum

Die Australier sind Meister der Subtraktion: Sie lassen vom Metal das Angeberische, das Düstere, das herausgestellt Virtuose beiseite, vom Drum ’N’ Bass das Speedfreak-Drogige, vom Eurotrash den Rap und den Sexismus. Heraus kommt eine einlullend–liebhabende warme Decke aus celestischen Harmonien, verdaulich langsamem Trace Beat mit Breakbeat Parts. Das Messianisch-Erlösende Mantra „What are we waiting for“, gefühlt hundert mal von allen gesungen, das in seinem Vortrag eher an Human League oder Cutting Crew erinnert, lullt die Metalmasse ein und zeigt, dass es gar nicht so eine Metalmasse ist.

Herumschlendern und temporäre FM4 Tattoos in der prallen Sonne herumwehen lassen, ist keine gute Idee, man kann sich zuerst einen Sonnenbrand, einen kleinen Sonnenstich und dann noch eine Erkältung holen. Das war das Nova Rock Schon für mich heuer, Kollege Christoph Sepin ist da besonnener gewesen und berichtet von jetzt an weiter. Schnüff

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