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Ali Ergin

Michael Bonvalot

„Unsere Wut ist stärker als die Angst“

Ali Ergin Demirhan ist Chefredakteur der Nachrichtenpage Sendika.org in Istanbul. Im Gespräch mit Michael Bonvalot erzählt er über Internet-Zensur, die Zeitbombe Kurdistan und Polizisten, die nun selbst im Gefängnis sitzen.

Von Michael Bonvalot

Gezählte 46 Mal wurde Sendika.org mittlerweile in der Türkei verboten. Allein sieben Mal waren es in den vergangenen Wochen. Gegenwärtig ist die Seite im Netz unter sendika47.org zu erreichen – denn die „Gewerkschaft“, wie Sendika auf Deutsch heißt, zählt die Verbote in der URL öffentlichkeitswirksam mit. Und das nächste Verbot ist nur eine Frage der Zeit.

Ali Ergin Demirhan ist Chefredakteur der Seite, ein unbezahlter Vollzeitjob. Täglich erscheinen mehrere Artikel, die von einem Netzwerk von KorrespondentInnen im ganzen Land erstellt werden. Rund 110.000 Menschen folgen der Plattform gegenwärtig auf Facebook, rund 260.000 auf Twitter. In den Redaktionsräumen in Istanbul haben wir uns zu einem Interview getroffen.

Sendika und ihr politischer Hintergrund:

Sendika steht der Bewegung der Volkshäuser (Halkevleri) nahe, die ursprünglich Anfang der 1930er Jahre vom türkischen Diktator Kemal Atatürk gegründet wurde. 1951 wurden die Volkshäuser von der Regierung geschlossen und in einer zweiten Phase ab 1963 neu gegründet. Insbesondere maoistisch beeinflusste Organisationen hatten danach starken Einfluss auf die Bewegung. Nach dem Militärputsch von 1980 wurden die Volkshäuser verboten. Ab 1987 wurden sie in einer dritten Phase nochmals neu aufgebaut.

Michael Bonvalot: Ali Ergin Demirhan, Sie sind Mitte April genau hier verhaftet worden, wo wir jetzt sitzen. Unter welchen Bedingungen arbeiten Sie gegenwärtig?

Ali Ergin Demirhan: Wir sind ein alternatives Medium, wir berichten über den sozialen Widerstand, wir brechen damit die Zensur. Es ist klar, dass wir der Regierung ein Dorn im Auge sind. Wir haben übrigens noch genug Domains für die nächsten Verbote in Reserve. (lacht)

Orte in der Türkei

Michael Bonvalot

Die Redaktionsräume von Sendika in Istanbul

Gegenwärtig erreichen wir rund 600.000 Menschen im Monat. Während der großen Gezi-Bewegung 2013 waren es sogar täglich rund 250.000 Menschen, danach waren wir einige Zeit bei rund zwei Millionen pro Monat. Jetzt wird es aber schwieriger, weil die Zensur greift.

Erdoğan versucht, die sozialen Medien zu zerstören. Aber die türkische Gesellschaft hat sich verändert, das lässt sich nicht einfach komplett verbieten. Heute haben rund 15 Millionen Menschen einen Account auf Twitter, rund 44 Millionen sind auf Facebook. Und vor allem in sozialen Protestbewegungen werden die neuen Medien sehr stark genutzt.

Wie ging es Ihnen bei ihrer Verhaftung?

Kurz vor meiner Verhaftung war ich noch in Schweden und habe darüber gesprochen, dass sie mich bisher nicht verhaftet haben. Zehn Tage später war ich dann dran. Ich war ehrlich gesagt eher überrascht, dass ich nach ein paar Tagen wieder freigelassen worden bin. Ich war persönlich sogar eher entspannt.

Ich hatte gerade meinen großen Artikel zum Wahlbetrug beim Referendum für die Präsidialrepublik fertiggestellt. Und sie hatten zwar mich verhaftet, aber das Büro und die Computer blieben intakt. Und das Netzwerk und der Widerstand existieren natürlich weiter, auch wenn ich verhaftet werde.

Wie stark ist die Regierung nach dem Referendum?

Auf staatlicher Ebene hat die Regierung jetzt enorm viel Macht gewonnen, vielleicht ist es sogar Erdoğans stärkste Zeit. Aber gleichzeitig ist er sehr schwach.

„Jeder weiß, dass Erdoğan das Referendum nur mittels Betrug gewonnen hat.“

Die Stadtzentren und großen Städte wie Istanbul, Ankara oder Izmir haben sogar nach den offiziellen Zahlen mit Nein gestimmt.

Orte in der Türkei

Michael Bonvalot

Nein (Hayır) zur Präsidialrepublik im Istanbuler Stadtteil Kadıköy

Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Immer mehr Leute sind unzufrieden mit Erdoğan und seiner Partei, der AKP. Es gibt Zahlen, wonach sogar 10% der AKP-UnterstützerInnen im Referendum gegen Erdoğan gestimmt haben. Das hat mit der sogenannten Gülen-Bewegung zu tun. Laut Regierung war ja diese Bewegung des Predigers Fethullah Gülen verantwortlich für den Putschversuch im vergangenen Jahr.

Früher waren Erdoğan und Gülen die besten Freunde, bis 2013 teilten sie sich die Macht. Gülen und seine Bewegung waren äußerst einflussreich. Die mittlerweile verbotene Zaman, die damals auflagenstärkste Tageszeitung des Landes, gehörte genauso zur Bewegung wie Banken, Schulen und Vereine. Im öffentlichen Dienst war es fast obligatorisch, Verbindungen zu Gülen zu haben.

Es wurde gewünscht, die Zaman zu lesen, zu spenden, ein Konto bei der Bank der Bewegung zu haben, Kinder in die Schulen der Gülenisten zu schicken oder Apps der Organisation aufs Handy zu laden. Das erklärt auch die sehr hohe Zahl derjenigen, die jetzt wegen Verbindungen zur Bewegung verhaftet werden. Die Regierung hat das gefördert, nun werden die Leute deshalb beschuldigt.

Sehen Sie also keine Gefahr in der Gülen-Bewegung?

Die Gülen-Bewegung ist natürlich gefährlich. Das hat die Opposition seit Langem gesagt. Aber Erdoğan hat in der Vergangenheit gemeinsam mit Gülen die linke und kurdische Opposition attackiert.

Gleichzeitig ist es natürlich absurd, zu behaupten, dass alle Leute, die jetzt verhaftet werden, überzeugte Anhänger der Bewegung sind. Aktuell stehen wir beispielsweise bei rund 150.000 Menschen, die aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden sind. Da sind auch tausende Linke, KurdInnen oder MenschenrechtsaktivistInnen dabei. Und natürlich viele ganz einfache Leute. Teilweise trifft es sogar prominente KritikerInnen der Gülen-Bewegung.

Das absurdeste Beispiel ist Ahmet Şık. Er musste 2009 ins Gefängnis, weil er ein kritisches Buch über Gülen verfasst hatte. Damals war das völlig unerwünscht. Jetzt wurde er wieder verhaftet, der abstruse Vorwurf ist nun, dass er Gülenist sei.

Orte in der Türkei

Michael Bonvalot

Türkische Polizei im traditionell linken Gazi-Viertel am Stadtrand von Istanbul

Früher wanderten Menschen ins Gefängnis, weil sie Gülen kritisierten. Dann brach die Allianz, jetzt folgen die Gülenisten. Teilweise sitzen jetzt JournalistInnen im Gefängnis, die zuvor die Repression gegen andere JournalistInnen verteidigt haben.

Übrigens war die Gülen-Bewegung auch im Repressionsapparat sehr stark, also unter Richtern und Polizisten. Es gibt immer wieder neue Wellen von Verhaftungen gegen angebliche oder tatsächliche Anhänger der Gülen-Bewegung. Erst kürzlich wurden 11.000 Polizisten entlassen, 1000 sind sogar im Gefängnis gelandet. Es könnte sogar sein, dass die Polizisten, die mich kürzlich verhaftet haben, jetzt selbst im Gefängnis sitzen (lacht).

Wie ist die Lage für die Menschen, die verhaftet werden?

„Teilweise ist es schlimmer als nach dem Militärputsch von 1980.“

Damals gab es mehr Folter und mehr Tote, aber jetzt herrscht komplette Willkür. Die Menschen werden isoliert in Zellen gehalten, bekommen keine Bücher, keine Zeitungen, keine medizinische Versorgung.

Die Polizisten sagen ihnen, dass sie im Gefängnis sterben werden. Und natürlich, das sollte nicht vergessen werden, gibt es unglaublich viele Tote in den kurdischen Gebieten.

Sie haben die Lage in Kurdistan angesprochen. Wie sehen Sie da die Entwicklungen?

Niemand weiß genau, wie viele Kurdinnen und Kurden es in der Türkei überhaupt gibt. Die Zahlen schwanken zwischen 10 und 20 Millionen Menschen. Eine so große Gruppe von Menschen auf Dauer auszuschließen, zu töten, das wird einfach nicht funktionieren. Wenn die kurdische Frage nicht gelöst wird, wird der Staat kollabieren.

Braune Wölfe im Schafspelz

Michael Bonvalot über die Grauen Wölfe und ihren zunehmenden Einfluss auch in Österreich.

Gleichzeitig braucht Erdoğan den Krieg gegen die kurdische Minderheit. Es gibt eine Koalition von Erdoğan mit dem Militär und der faschistischen MHP, den sogenannten Grauen Wölfen. Diese Koalition beruht auf dem Krieg gegen die kurdische Minderheit.

Übrigens strahlt der Konflikt in den kurdischen Gebieten auch nach Syrien aus. Dort wollte Erdoğan gleichzeitig Assad und die PKK besiegen und einen Muslimbruder-Staat aufbauen. Nun hat er stattdessen eine starke linke kurdische Bewegung an der Grenze zur Türkei am Hals.

Könnte die Türkei nochmals in Syrien einmarschieren?

Das ist durchaus möglich. Ich glaube aber nicht, dass Erdoğan gegen die PKK gewinnen kann. Erdoğan hat in Syrien auch viel von seinem früheren Rückhalt durch die djihadistischen Gruppen verloren. Die Djihadisten sehen Erdoğan mittlerweile als Marionette des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sie werfen ihm vor allem vor, dass er am Abzug der Al-Nusra aus Aleppo beteiligt war.

Auch das ist ein Problem für ihn, denn nach Schätzungen sympathisieren 10-15% der AKP-Parteigänger mit dem IS. Die AKP steht dem IS ideologisch sehr nahe. Aber immerhin köpfen sie uns derzeit nicht (lacht).

Der Krieg hat sehr viele Flüchtlinge in die Türkei gebracht. Wie geht es diesen Menschen?

Ein ausführliches Interview mit türkischen FlüchtlingshelferInnen könnt ihr hier lesen.

Die Bedingungen der Flüchtlinge sind wirklich sehr schlecht. Es gibt Menschenhandel, es gibt Kinderarbeit es gibt sexuellen Missbrauch. Kriminelle Mafia-Netzwerke beuten die Menschen aus. Manchmal gibt es auch Angriffe von faschistischen Gruppen.

Insgesamt leben mehrere Millionen geflüchtete Menschen in der Türkei. Gleichzeitig ist diese Situation natürlich hausgemacht. Erdoğan hat den IS und Al Nusra aufgebaut, jetzt kommt der Krieg nach Hause.

Wie sehen Sie die Situation der Opposition?

Die Islamisten und die Ultranationalisten, das sind Rechte. Sie sind neoliberal und unterstützen die Oligarchen. Und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die säkulär sind, für den Frieden und gegen den US-Imperialismus, die die Minderheiten unterstützen und sich für ArbeiterInnenrechte einsetzen.

Für die Linke war die Gezi-Park-Bewegung im Jahr 2013 ein wichtiger Wendepunkt. Viele Leute sind damals aufgewacht und wieder aktiv geworden. Heute ist die stärkste Organisation auf der Linken natürlich die HDP. Sie steht der PKK nahe. Wir unterstützen sie von außen, sehen sie aber auch kritisch. Wir glauben etwa, dass eine nationalistische Polarisierung am Ende vor allem dem Staat nützt.

Orte in der Türkei

Michael Bonvalot

Türkisches Militär vor einem Wahllokal in Van im kurdischen Südosten.

Ich glaube auch, dass es eine soziale Spaltung innerhalb der kurdischen Gesellschaft gibt. Die Guerilla repräsentiert das kurdische Proletariat. Aber wir haben gesehen, dass in den reicheren Vierteln in den kurdischen Städten wenig gekämpft wurde. Es haben sich auch nicht alle FunktionärInnen der HDP am bewaffneten Widerstand beteiligt. Ich glaube, dass die HDP deshalb einiges an Einfluss verloren hat. Die Leute wählen die HDP, aber sie schauen auf die Guerilla.

Gleichzeitig ist es für die HDP natürlich schwierig, unter den jetzigen Bedingungen Diskussionen über all diese Entwicklungen zu führen. Allein während des Referendums hat der türkische Staat 3000 Kader der HDP inhaftiert, das schwächt die Partei klarerweise enorm.

Sehen Sie neben der HDP noch andere bedeutende Organisationen auf der Linken?

Relevant sind etwa die Kommunistische Partei (TKP), die Partei für Freiheit und Geschwisterlichkeit (ÖDP) und die Bewegung der Volkshäuser (Halkevleri), mit der wir eng zusammenarbeiten. Diese Organisationen können jeweils tausende Menschen mobilisieren, sind in den armen Nachbarschaften, den Gewerkschaften und den Universitäten stark verankert.

Die bewaffneten Gruppen [Anm.: die innerhalb der türkischen Linken traditionell eine bedeutende Rolle spielen] sind mittlerweile schwächer geworden. Sie haben sehr mit den Folgen der Repression zu kämpfen. Als Folge der langen Hungerstreiks sind etwa viele Kader am Wernicke-Korsakow-Syndrom erkrankt. Sie haben ihr komplettes Erinnerungsvermögen verloren und müssen jeden Tag aufs Neue ihre Umgebung und ihre Bezugspersonen kennenlernen.

Könnte die wirtschaftliche Lage Erdoğan einen Strich durch die Rechnung machen?

Aktuell funktioniert die Wirtschaft. In der Türkei leben 80 Millionen Menschen, es gibt eine große Binnenökonomie. Solange die EU mitspielt und die Türkei liquide hält, ist das Land regierbar. Gleichzeitig gab es in den vergangenen Jahren einige große Arbeitskämpfe.

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Oft waren das Basisbewegungen ohne die großen Gewerkschaften. Das war etwa in der Tabakindustrie der Fall. Aber unter den Bedingungen des Ausnahmezustands ist es natürlich sehr schwierig, Streiks zu organisieren.

Wie geht es für Sie und Sendika nun weiter?

Gegen mich laufen aktuell mehrere Verfahren, unter anderem wegen „Terrorpropaganda“ Doch ich sehe keine Alternative zum Widerstand. Kann es passieren, dass jetzt jemand reinkommt und uns verhaftet? Natürlich. Alle die nicht dumm sind, haben Angst. Aber wir haben doch gar keine andere Wahl. Unsere Wut ist stärker als die Angst.

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