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Portraitfoto J. Bernardt, sein bätiges Gesicht mit weißem Hut

Athos Burez

Artist of the week

Hypnotisierende Grooves aus dem Schlafzimmer

Der belgische Sänger und Songschreiber Jinte Deprez alias J. Bernardt hat in seinem kleinen Schlafzimmer großen Indie-Soul produziert. Mit seinem Debüt „Running Days“ ist er unser Artist Of The Week.

von Andreas Gstettner-Brugger

Nach drei Alben mit seiner Indierockband Balthazar und endlosem Touren wollte sich der belgische Sänger und Songschreiber Jinte Deprez eine Auszeit nehmen. Das Bandvehikel war zu einer großen Einnahmequelle geworden, von der viele Menschen abhängig sind. So sind auch persönliche Anliegen und der Spaß an der Musik immer kürzer gekommen, sodass sich Jinte auf den Weg machte, die Freude am Musikmachen und ein Stück weit auch sich selbst wiederzufinden.

Balthazar
Die belgische Indieband Balthazar ist von Sänger und Songschreiber Jinte Deprez 2004 in Gent gegründet worden. Auf ihren bisher drei Studioproduktionen lieben sie es, mit psychedelischen Versatzstücken der 1960er und 1970er zu spielen und auch der Folk schimmert durch die poppigen Songs.

Sich vom Groove hypnotisieren lassen

Sanft erklingen Klavierakkorde zu einer kleinen, kratzenden Gitarrenlinie, bis die warmen, deepen Beats einsetzen. Darüber flirrt das soulige Summen von Jinte Deprezs Stimme. Der Eröffnungstitel „On Fire“ führt uns sofort tief in den Soundkosmos von J. Bernardt. Kein Ton, kein Beat ist hier zu viel, keine Synthie-Linie zu üppig. Alles ist genau am Punkt mit sehr viel Platz zwischen den Tönen.

Doch bis dahin war es ein weiter Weg für Jinte. Seine ersten Aufnahmen wanderten alle in den Mistkübel, zu nahe waren sie am Sound von Balthazar. Die klassische Art Songs zu schreiben musste Jinte völlig neu denken.

„Als westlich-europäischer Typ wächst du mit sehr viel melodischer Musik auf. Aber es ist für mich viel spannender, all die afrikanischen Rhythmen, indischen Streetbands und die Native American Music zu erforschen. Da geht weniger um die Melodie oder um die Akkorde sondern vielmehr darum, sich vom Groove hypnotisieren zu lassen.“

Plattencover von J. Bernardts Debütalbum "Running Days".

Play It Again Sam

Das Solo-Debüt von J. Bernardt ist bei Play It Again Sam erschienen.

Genau das macht Jinte mit dem Song „The Question“, einem selbstbewusst dahinstampfenden, von Hip Hop inspiriertem Popstück mit orientalischer Sitar-Melodie. Dazwischen haben noch ein Paar Synthie-Akkorde Platz, durchzogen von einem zitternden Orgelsound.

Neben dem Fokus auf Rhythmik, steht bei „Running Days“ vor allem der Soul im Mittelpunkt von J. Bernardt. Das liegt nicht zuletzt an seiner samtenen Stimme, deren Vibrato Jinte zum ersten Mal nicht mehr störend vorkommt, sondern mit dem er gezielt arbeitet. Vor allem das gospelartige Summern und die vielschichtigen Backingvocals tauchen in fast jeder Nummer auf. Manchmal sogar als große Hookline, wie in der ersten Single „Calm Down“, ein gesummter Ohrwurm, den man nicht mehr so schnell wieder loswird.

Neben aller Entspanntheit hat J. Bernardts Musik auch eine unterschwellige Dringlichkeit. Vor allem die Nummer „Wicked Streets“, die die hedonistische Flucht ins Wochenende feiert, entwickelt sich vom reduzierten Soulpopsong zu einer einnehmenden Dance-Nummer.

Das persönliche Schlafzimmeralbum

Auch wenn auf „Running Days“ alles nach perfekt austarierter, geschmeidiger und glanzpolierter Produktion klingt, sind die Songs in Jintes kuscheligem Schlafzimmer in Gent entstanden, in dem gerade mal ein kleines Schlagzeugset Platz hatte. Zwei neue Synthesizer rein bedeutete, das Schlagzeugset wieder rauszustellen. In diesem intimen Rahmen hat Jinte auch soundmäßig experimentiert und sich auch viel Zeit mit den Vocals gelassen.

Diese produktionstechnische Intimität hat sich auf die Themen des Albums ausgewirkt. Das langsam dahinswingende und etwas unterkühlt klingende „The Other Man“ ist Jintes Rückschau auf sein Leben und das Spiel mit all den Möglichkeiten, die er ausgelassen hat. Andere Songs erzählen von einer schwierigen Trennung und verarbeiten die wunderbaren und schmerzhaften Seiten der Liebe.

Das vielleicht traurigste und reduzierteste Liebeslied „My Own Game“, das wie eine Mischung aus Daft-Punk-Synthies und James-Blake-Ästhetik klingt, ist gleichzeitig das emotional stärkste Stück der Platte. Auch hier lässt sich Jinte mit einem unglaublichen Gespür für Details und für das Arrangement viel Zeit, eine atmosphärische Weite entstehen zu lassen, in die man am liebsten für immer versinken möchte.

Portraitfoto J. Bernardt

Athos Burez

Über die musikalische und rein textliche Ebene hinaus ist das neue Solo-Projekt für Jinte zu einer Art therapeutischem Befreiungsschlag geworden.

Das einzige, was wichtig war, dass ich Spaß am Musikmachen und Songschreiben habe und dass ich dabei über mich selbst etwas lerne. Genau deshalb war es für mich ein sehr heilsames Projekt."

Und so ist „Running Days“ sowohl ein Album für gehetzte Großstädter, wie auch für einsame, gebrochene Herzen geworden. Es ist eine willkommene Vollbremsung in hektischen Zeiten, ein liebevoll produzierter und Raum erzeugender Klangkosmos, der unsere Ohren wieder aufmacht und uns empfänglich werden lässt, für eine sehr persönliche Identitätssuche.

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