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Gianna Molinari

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Bachmannpreis

Textklauben in Klagenfurt

Endspurt beim Textklauben in Klagenfurt: Eckhart Nickel tritt mit „Hysteria“ an und die Jury ist von Gianni Molinaris Geschichte angetan.

von Maria Motter

„Wir haben so gut connected über Frisch!“ Die Begeisterung über sein Gespräch mit Eckhart Nickel kann ein Journalist in Klagenfurt nicht leugnen. Ja, Klagenfurt in Zeiten des Bachmannpreises verspricht Glücksmomente für GermanistInnen. Und auch wenn die Jury diesmal nicht allzuweit ausholt, um dem Fernseh- und Stream-Publikum die Literaturgeschichte ins Gedächtnis zu rufen: vor Ort matchen sich die intellektuellen Köpfe selbstverständlich lieber, als zum Wörthersee zu radeln und zu schwimmen. Überhaupt ist es im Freien derart grell, dass ich mich frage, wie Zita Bereuter es bei ihren Moderationen im Garten des Landesstudios schafft, ihre Gäste so charmant und mit offenen Augen zu begrüßen. Ohne Sonnenbrille mutiert man hier binnen Sekunden zum Maulwurf.

Womit wir wieder bei den Texten wären: Flora und Fauna sind dieses Jahr die insgeheimen Gewinner. Keine Geschichte kommt ohne Getier aus.

Trau keiner Himbeere: Eckhart Nickel

Eckhart Nickel

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Eckhart Nickel

Der heutige dritte Lesetag ist der letzte Lesetag. Die Suche nach besten Texten geht weiter, denn bislang sind erst John Wray und Ferdinand Schmalz als Favoriten aufgefallen. Bald gibt es mehr Preise als KandidatInnen, scherzt ein Journalist. Dieses Jahr wird erstmals auch der „Deutschlandfunk-Preis“ vergeben, gestiftet von Deutschlandradio. Die Summe aller Preise beträgt stolze 55.000 Euro. Auch Stefanie Sargnagel, ob des Gewinns des Publikumspreises im Vorjahr zurzeit Stadtschreiberin in Klagenfurt, verfolgt das Geschehen.

Eckhart Nickel tritt mit „Hysteria“ an.

Der Text in drei Sätzen: „Als Bergheim, weil es gerade vor einem Stand, der Wagyu-Rinder von einer organischen Farm an den Weidehängen des nahen Mittelgebirges anbot, nicht weiterging, seinen Blick über die schwärzlichen Tiere schweifen liess, fiel ihm ein Rind auf, das weiter hinten im Pulk stand und sich eigenartig bewegte. (…) Bei dem Gedanken, dass es sich am Ende gar nicht um Brombeeren handelte, wurde im mulmig, aber die Frau hatte sie schließlich auch selbst gekostet. (…) Durch die hauchdünne Schicht der Epidermis war alles, was sonst dahinter versteckt war, zum Vorschein gekommen: Knochen, Muskeln, Nerven und das Fettpolster, das den Menschen vor Verbrennungen schützte.“

JurorInnen, die den Text mochten, lasen auch: Hugo von Hoffmannsthals Brief, Adalbert Stifter, Oscar Wilde. Den immerzu No.1-Bestseller in Science Fiction bei Amazon: Aldous Huxleys „Brave New World“.

Das sagt die Jury: Wir hätten es hier mit einem Protagonisten zu tun, dessen Sinnesverarbeitung zwar zuverlässig arbeite, der jedoch zu Panikattacken neige und in eine Art Zeitschneise falle, die ihn in archaische und zugleich futuristische Zeiten führe. So Hildegard Keller mit einer Inhaltsangabe.

Hier regiert der Hyperrealismus, so Hubert Winkels. Die Wahrnehmung gehe in den Wahnsinn, wenn man ganz genau los fokussiert, sagt Stefan Gmünder. Es sei im Grunde ein Elementarteilchentext, sagt Sandra Kegel. Auch Klaus Kastberger „mag diese Käferdichter, wo im Grashalm mit Sicherheit noch ein Marienkäfer sitzt“. Michael Wiederstein, erstmals in der Jury, will eine „German Angst“ erkennen. Kulturkritik und die Sehnsucht nach Romantik und dem selbstversorgenden, vermeintlich guten Leben prallen hier aufeinander.

Ein realer Fall: Gianna Molinari

Gianna Molinari

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Gianna Molinari kommt aus Zürich und spendet einen Teil ihrer Honorare an Organisationen, die Geflüchtete unterstützen. Ihr Text „Loses Mappe“ erzählt über den wortwörtlichen Fall eines Mannes, der sich in einem Flugzeugfahrwerk versteckt hat, um andernorts anzukommen, der einen Fabriksarbeiter nicht mehr loslässt. Gleich auf der ersten Seite findet sich „der Mann, der vom Himmel fiel“ mehrfach.

Der Text in drei Sätzen: „Ich würde Lose gern sagen, dass man nicht alles sehen kann oder nicht alles im richtigen Moment sehen kann, dass nicht oft Menschen vom Himmel fallen, dass es auch verständlich ist, dass er nicht sofort, dass er sitzen geblieben, dass er nicht hinuntergeklettert war, um nachzuschauen. (…) In einer Höhe von 8000 Metern friert der menschliche Körper langsam ein, lese ich in Loses Mappe, auf der Seite neben dem Bild von Ikarus. (…) Was also verweht werden kann, fragte ich mich, außer der Erinnerung derjenigen, die ihn kannten, die aber wahrscheinlich gar nicht wissen, dass er tot ist.“

JurorInnen, die den Text mochten, haben ein Abo: von „Die Zeit“ oder „Falter“.

Das sagt die Jury: Dass ein Protagonist im Text auch noch Lose hieße, sei ganz wichtig für das Selbstbewusstsein des Textes, so Hildegard Keller, die bereits eine Laudatio vorbereitet hat. Im Text finden sich Bilder: ein altes T-Shirt, ein Grabeskreuz eines Unbekannten. Wenn das nicht authentische Fotos wären, fände Hubert Winkels es obszön. Sandra Kegel weiß, dass die Geschichte eine Referenz auf einen realen Fall hat. Klaus Kastberger spricht es aus: der Text ist nah am Journalismus. „Parataxe! Extreme Parataxe!“ Wie angetan die Jury von diesem Text ist, überrascht. Hat sie es doch vor weniger als 24 Stunden nicht geschafft, die Wohnungsgemeinschaft in Barbi Markovics tollem Text „Die Mieter“ als Staatengemeinschaft zu deuten.

Apropos Assoziationen: Viele Rinder stehen in den heute präsentierten Texten und der Beef zwischen den JurorInnen Meike Feßmann und Klaus Kastberger geht in die nächste Runde im Ring. Und der Saal-Moderator Christian Ankowitsch bekommt auch Kritik ab: Frau Feßmanns Vorname ist „Meike“ und nicht „Heike“. Und immerhin ist die Literaturkritikerin schon so lange in der Bachmannpreis-Jury, dass man die Jahre nachschlagen müsste.

Freizügigkeitsbescheinigung: Maxi Obexer

Maxi Obexer

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Es folgt „Europas längster Sommer“ für eine Ich-Erzählerin aus Südtirol, die zum Studium nach Berlin geht und dort ihr Coming-out hat. „Europas längster Sommer“ heißt die Geschichte von Maxi Obexer, geboren in Brixen, jetzt zuhause in Berlin. Soweit so nah.

Der Text in drei Sätzen: „Ich war überwach, angreifbar und ausgesetzt. (…) „Im letzten Jahr wurden 6000 Minderjährige am Brenner aus dem Zug geholt.“ (…) ‚Es ist auch ein Experiment, ich möchte herausfinden, ob sich mit dem Pass etwas ändert‘, sagte ich zu Tania, die daraufhin ihre Lippe verzog.“

Das sagt die Jury: Klischees, Vorurteile und klassische linksliberale Ressentiments seien dem Jury-Vorsitzenden Hubert Winkels im Text begegnet. Das sei kein poetischer Text, sondern eine Geschichte, die versuche, die Loslösung vom Heimatland zu beschreiben als ein Zur-Sprache-Kommen, so Meike Feßmann. Winkels ortet Metaphernkaskaden. Misslungen ist ein hartes Wort, aber Stefan Gmünder sagt es. Hier werde keine fiktionale Welt mehr entwickelt, sagt Sandra Kegel. Es fehle die literarische Raffinesse. Die Welt im Text werde immer wieder moralisch gewertet. Feßmann fragt: Sind wir da wirklich alle einig, dass es ein Vorwurf ist, wenn in einem Text Moral vorkommt?
Dafür gibt es ein Happy-End für die JurorInnen Feßmann und Kastberger: Endlich ist man sich einmal einig. „Drei Jahre haben wir gebraucht!“

Immerhin führt die Präsentation des Texts dazu, dass die Sprache auf Double-Bind kommt. Klaus Kastberger erklärt die Doppelbindungs-Theorie anhand des angeblichen Wiener Bonmots „Geh! Kumm her da. Schleich’ di!“: Man bekommt zwei, einander widersprechende Handlungsanweisungen.

Weiterführende Lektüre: Werke des Anthropologen Gregory Bateson.

Der den Wolf totschlägt: Urs Mannhart

Urs Mannhart

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Mit dem letzten Text, der dieses Jahr in Klagenfurt vorgelesen wird, sind wir gefühlt im Wilden Westen angekommen. Stuten, Hengste und ein das Männer-Idyll bedrohender Wolf stehen in Urs Mannharts Text „Ein Bier in Banja“ herum. Immerhin gibt es einen Internetanschluss in diesem fiktiven archaischen Haushalt.

Der Text in drei Sätzen: „Die junge Gürrün einzufangen ist schwierig; von den restlichen dreiundzwanzig Pferden versperren ihm immer wieder Schultern, Schweife und Widerriste den Weg. (…) Eine in der Stille schwebende Zeitlang stehen sich Mann und Wolf gegenüber. (…) Diese blasierte Art, mit der Kalinur einer Ziege die Gurgel aufschneidet.“

JurorInnen, die den Text mochten, bestellten vor Jahren: John Steinbeck „Von Mäusen und Menschen“. Peter Rosegger „Als ich noch der Waldbauernbub war“.

Das sagt die Jury: Manchmal geht es für Sandra Kegels Geschmack etwas zu sehr in Richtung Fototapete. Der Text würde Vladimir Putin gefallen, vermutet Klaus Kastberger. Das sei aber eine außerliterarische Kategorie, kontert Stefan Gmünder. Es ist eine vormoderne Geschichte, sagt Hubert Winkels. Und Michael Wiederstein, der Urs Mannhart eingeladen hat zum Wettlesen, hat gestern Nacht nochmal Franzobels Eröffnungsrede der Tage der deutschsprachigen Literatur gelesen und verteidigt Mannharts Stil: „Da kann sich jeder reinversetzen.“ Hildegard Keller allerdings verneint das sogleich, billigt jedoch Mannhart ein „Talent für Askese“ zu.

Im Garten plaudern noch die letzten verbliebenen Gäste, die Juroren. In der ORF-Kantine des Landesstudios verkaufen die Damen ein Glas Prosecco und die schlimmste Testbild-Signation dudelt im Loop.

Verena Dürr

Maria Motter

Wenn das Ungeheurliche in ein Idyll einbricht, können sich Welten verkehren. Mitunter entpuppt sich das Idyll als Ort des Horrors. Doch all zu weit hat sich dieses Jahr keine Autorin oder Autor ins Fantastische gewagt, wenngleich etwa in Noemi Schneiders Text im Abendland kein Flugzeug mehr landet. Zum Connecten bleibt die Fauna.

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