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Protesters hold posters reading "constitution" during a protest in front of the presidential palace in Warsaw

JANEK SKARZYNSKI / AFP

Ist die Demokratie in Polen in Gefahr?

In Polen sollte die Regierung künftig die Richter bestellen können, womit die Gewaltentrennung aufgehoben wäre. Das sieht eine Justizreform vor, gegen die Präsident Duda in letzter Minute ein Veto eingelegt hat. Damit wird die Reform zumindest aufgeschoben.

Von Florian Bayer

Seit Herbst 2015 regiert die Partei für „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Polen mit einer absoluten Mehrheit und lässt keinen Stein auf dem anderen. Nachdem die staatlichen Medien von kritischen Journalisten „gesäubert“ wurden, Führungspositionen in staatlichen Unternehmen umbesetzt und Theater- und Museumsdirektoren eingeschüchtert wurden, geht es nun um die Unabhängigkeit der Justiz. Und das in Polen, dem größten osteuropäischen Mitgliedsland der EU, das lange als Erfolgsbeispiel der europäischen Integration galt.

Ausgerechnet die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) möchte nun das Justizsystem refomieren: Die Regierung - also derzeit die PiS unter der Führung von Jarosław Kaczyński - soll künftig sämtliche Richter in Polen bestellen und nicht länger eine unabhängige Behörde. Damit wäre die Gewaltenteilung von Gesetzgebung (Regierung, Parlament) und Justiz ausgehebelt.

Überraschendes Veto

Innerhalb weniger Tage hat die PiS die drei Teilgesetze der Reform durch beide Kammern des polnischen Parlaments gepeitscht. Einzig die Unterschrift von Präsident Andrzej Duda war noch ausständig. An sich ein Formalakt - doch Duda hat am Montagvormittag überraschend ein Veto eingelegt: „Wir müssen das Gerichtswesen reformieren. Die Änderungen müssen aber so erfolgen, dass Gesellschaft und Staat nicht gespalten werden“, sagte der polnische Präsident. So wie die Reformen im jetzigen Entwurf formuliert sind, würden sie das Gerechtigkeitsgefühl der Polen verletzen und zu Ängsten vor einer oppressiven Regierung führen.

Protesters raise candles during a protest on July 20, 2017 in front of the presidential palace in Warsaw, Poland

Adam Chelstowski / AFP

Tausende vor dem Präsidentenpalast letzten Donnerstag in Warschau.

Damit spricht Duda die Demonstrationen der letzten Tage an: Gegen die geplante Aufhebung der Gewaltenteilung gehen seit Tagen Tausende Polinnen und Polen auf die Straße. Nicht nur vor dem Parlament in Warschau, sondern in mehr als hundert Städten in ganz Polen. Etwa Justyna (24), die in Krakau als Übersetzerin arbeitet: „Die Justizreform ist ein weiterer Schritt in Richtung eines autoritären Staates. Es ist verrückt, dass die PiS so genannte liberale Eliten absetzen möchten - dieselben leere Worthülsen hören die Polen schon seit den Fünfziger Jahren.“

Auch wenn sie nicht direkt betroffen ist – höchstens durch das zunehmend eingeschränkte Angebot an objektiven Medien, wie sie sagt – geht Justyna fast jeden Tag demonstrieren: „Weil sie uns um die Zukunft berauben und alle Fortschritte zerstören, die in Polen in den letzten 25 Jahren erreicht wurden.“

Oberflächlich tut die Regierung viel Gutes, sagt Justyna. So gibt es mittlerweile ein monatliches Kindergeld und ein niedrigeres Pensionsantrittsalter. Auch das Einstehen für ein „starkes Polen“, das unabhängig von der EU ist, zieht bei vielen. „Insgesamt ist die Politik aber sehr unausgegoren und populistisch.“ Dass sich die PiS demonstrativ zur katholischen Kirche bekennt, die in Polen immer noch sehr mächtig ist, tut ein Übriges zum Erfolg, sagt die Linguistin.

Friedliche Proteste

Auch Jadzia (23), die in Warschau Wirtschaft studiert, war schon bei mehreren Protesten gegen die aktuelle Regierung: Schon 2016, als die PiS das ohnehin schon extrem restriktive Gesetz gegen Schwangerschaftsabbruch weiter verschärfen wollte. Auch letzte Woche war sie dreimal auf der Straße: „Die PiS meint zwar, sie tritt für ein starkes Polen ein, tatsächlich will sie uns aber in einen abgemilderten Autoritarismus führen. Wir müssen uns dagegen wehren.“

Sie beschreibt die Proteste in Warschau, die seit Bekanntgabe des neuen Gesetzestextes täglich stattfinden, als friedlich und positiv. „Die Menschen bringen Kerzen und bilden Lichterketten, Schauspieler lesen aus der Verfassung. Es sind eine Menge junger Leute dort, was mich sehr überrascht und freut“, sagt die 23-Jährige.

Dennoch wird der Protest hauptsächlich von Älteren getragen, die den Sozialismus noch lebhaft in Erinnerung haben. So hat sich am Wochenende der Streikführer und Politiker Lech Wałęsa den Protesten angeschlossen. Wałęsa war es, der ab 1980 als Vorsitzender der Gewerkschaft Solidarność und Streikführer wesentlich an der Öffnung Polens mitgewirkt hat. "1989 haben wir euch ein demokratisches Polen gegeben. Ihr müsst nun dafür kämpfen - mit allen Mitteln“, rief er am Sonntag bei einer Demo in Danzig.

Lech Walesa spricht zu Demonstrierenden in Gdansk

Simon KRAWCZYK / AFP

Lech Walesa spricht zu Demonstrierenden

Wunden der Vergangenheit

Was sagen Experten zu den aktuellen Entwicklungen? „Kaczyński will um jeden Preis das Rechtssystem reformieren, dafür steht er schon seit 1989“, sagt Paweł Krulikowski, freier Journalist und Politikwissenschafter. Er vermutet keine persönliche Motivation hinter Kaczyńskis Politik, auch wenn das viele anders sehen. Nach wie vor glaubt Kaczyński, dass die Opposition hinter dem Flugzeugabsturz von 2010 steckt, bei dem sein Zwillingsbruder Lech Kaczyński, damals Premierminister von Polen, ums Leben kam.

Pawel Krulikowski

Florian Bayer

Pawel Krulikowski

„Das Unglück von Smolensk ist schwer zu verstehen. Das Hauptproblem ist sicher, wie das offizielle Polen damals mit den Opfern umgegangen ist. Bis heute, sieben Jahre danach, wurde das Flugzeugwrack von den Russen nicht nach Polen überstellt“, sagt Krulikowski. Er denkt, dass Kaczyński diese Unklarheiten geschickt nutzt, um Politik zu machen. „Auch wenn er gelegentlich überreagiert und explodiert: Hinter Kaczyńskis Verhalten steckt Kalkül und nicht Emotionen“, so der Journalist. Schließlich ist Smolensk für die Öffentlichkeit noch immer ein wunder Punkt, der noch nicht aufgearbeitet wurde und mit dem sich Stimmung machen lässt.

„Bist du für oder gegen die PiS?“

Trotz der anhaltenden Proteste steht die PiS in Umfragen noch immer bei 35 bis 40 Prozent und hat einen deutlichen Abstand zu allen anderen Parteien. Das Land ist gespalten, vor allem zwischen Befürwortern und Gegnern der aktuellen Regierung. Für politische oder ideologische Diskussionen bleibt kein Platz, sagt Krulikowski: „Alles was zählt, ist: Bist du für oder gegen die PiS?“

Die Jungen stehen zu großen Teilen hinter der Regierungspolitik. So hat ein Viertel der 18- bis 25-Jährigen hat bei der Parlamentswahl 2015 für die PiS gestimmt, weitere 20 Prozent für die ebenso rechtspopulistische und EU-kritische Kukiz’15. Warum ist das so? „Weil sie Änderungen versprechen, die die Leute spüren. Natürlich ist es gut, wenn mit EU-Geldern neue Straßen und Stadien finanziert werden. Aber was nützt mir das, wenn ich kein Auto und kein Geld für ein Fußballticket habe?“, veranschaulicht Krulikowski.

Gerade im Osten Polens, wo es in manchen Gemeinden Arbeitslosenquoten von 20 bis 25 Prozent gibt, sind die Prioritäten andere, als in den liberaleren Großstädten. Die PiS verstehe es, ihre populistischen Reformen gut zu verkaufen, viele Abgehängte fühlen sich von ihr angesprochen. Das ist durchaus vergleichbar mit Le Pen in der französischen Provinz oder Trump in ruralen Landstrichen der USA, so Krulikowski.

People hold candles as they take part in demonstration in front of the Polish Supreme Court on July 23, 2017

JANEK SKARZYNSKI / AFP

Zersplitterte Opposition

Obwohl die Regierung so polarisiert, hat die Opposition kein leichtes Spiel: Die Platforma Obywatelska (PO; Bürgerplattform), der auch Donald Tusk angehört, der früherer Premier und aktuell amtierende Präsident des Europäischen Rats, wurde nach acht Jahren in der Regierung bei der letzten Wahl 2015 deutlich abgestraft. Verstrickungen in mehrere Korruptionsskandale, keine spürbaren Reformen sowie eine Doppelmoral hinsichtlich der eigenen Politik waren die Hauptursachen.

Die PO steht nach wie vor bei etwa 25 Prozent, doch eine Mehrheit scheint in naher Zukunft ausgeschlossen. Es gibt zwar neue Parteien, etwa die wirtschaftsliberale Nowoczesna, die 2015 einen Achtungserfolg von sieben Prozent erzielt hat, mittlerweile aber in Umfragen wieder deutlich darunter liegt. Auch die liberale und basisdemokratische Razem hat 2015 aus dem Stand fast vier Prozent erzielt, kämpft aber nach wie vor mit ihrer Finanzierung und Stabilität. Auch ist es schwer, als kleine Partei im aktuellen politischen Klima in die Medien zu kommen. So bleibt die Opposition links der Mitte zersplittert.

Wie geht es nun weiter?

Mit dem Veto von Duda und der Aufforderung zur Überarbeitung der Justizreform hat sich die Situation fürs Erste entschärft. Eigentlich ist ja auch die polnische Politik in der Sommerpause, auch wenn davon bisher wenig zu merken war.

Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte, sagt Krulikowski: Entweder PiS-Chef Kaczyński zerwirft sich mit seinem Ziehsohn und früheren Parteikollegen Duda und hält an der jetzigen Fassung fest. Oder aber es kommt zu einer tatsächlichen Überarbeitung unter Präsident Dudas Leitung. Was könnte dann dabei herauskommen? In jedem Fall wird die Zukunft spannend. Offenbar gibt es in Polen durchaus eine starke Zivilgesellschaft, die bereit ist, weiter auf die Straße gehen, wenn es die Demokratie zu verteidigen gilt.

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