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Lissabon Ruinen: Gitarrenspieler und zwei ZuhörerInnen

Rainer Springenschmid

reportage

Lisbon is the new Lisbon

Wie Lissabon innerhalb weniger Jahre von der am Boden liegenden Hauptstadt eines Krisenlandes zur neuen „capital of cool” wurde.

Von Michael Riedmüller, Lissabon

Lissabon schickt sich an, Berlin im Arm-aber-sexy-Ranking den Rang abzulaufen. Die malerische Stadt am Tejo entdeckt seit einigen Jahren ihr Bohème-Erbe wieder, und die Vergleiche in der internationalen Presse folgen wie das Amen aufs Gebet: Lissabon ist das neue Berlin. Oder Barcelona. Oder San Francisco. Letztes Jahr reagierte die Stadt augenzwinkernd mit einer Kampagne namens Lisbon is the new Lisbon. Ganz unbegründet sind die Vergleiche aber nicht. Langsam, aber sicher mausert sich Lissabon zur aufregendsten Stadt Europas.

Für die wachsende Community der Digital Nomads ist Lissabon wie ein wahr gewordener Traum. Leistbare Mieten mitten in der Stadt, billiges Bier in Hipster-Bars, die besten Surfstrände Europas quasi vor der Haustür. Der britische Guardian betitelte Lissabon kürzlich als the new capital of cool und an outstanding example of what might be called Monocle urbanism.

Lissabon

Rainer Springenschmid

Hinter der Straßenbahnremise unter der Hängebrücke: das Village Underground, Café (im Bus) und Coworking Space (in den Containern).

Orte wie Village Underground sind die neuen Zentren der capital of cool. Mitten unter der ikonischen Hängebrücke am Tejo wurde vor ein paar Jahren eine brachliegende Fläche zu einem Coworking- und Kulturzentrum umgewandelt, mit buntbemalten Schiffscontainern und ausrangierten Doppeldecker-Bussen als Arbeitsräumen. Gleich ums Eck ist der Eingang zur LX Factory, einem ehemaligen Fabrikgelände, auf dem sich heute statt Maschinen Studios, Bars und Restaurants, Shops und Galerien aneinanderreihen. Die Lissaboner Street-Art-Szene mit ihrem Aushängeschild Vhils schafft es in vielen Rankings mittlerweile auf Platz eins. Ein paar Gehminuten stadtauswärts vom zentralen Rossio-Platz mausert sich das noch vor einigen Jahren als Drogenumschlagplatz berüchtigte Viertel Intendente zum neuen Bobo-Paradies. Und im einst verruchten Hafenviertel Cais do Sodre sind die Puffs stylischen Bars gewichen.

Begonnen hat die Entwicklung schon vor einigen Jahren, doch so richtig Fahrt aufgenommen hat Lissabon um 2015 – fast forward vom Geheimtipp zum neuen place to be.

Am Anfang war die Krise

Innerhalb der EU wurde nur Griechenland noch stärker von der so genannten „Euro-Krise“ erfasst als das 10-Millionen-Einwohner Land am Atlantik. Portugal war schon davor das ärmste Land Westeuropas, ab 2010 ging es noch einmal rapide bergab. Bankenkrise, Staatsschuldenkrise, Wirtschaftskrise. Rettungsschirm, Troika, Austerität. A holy mess! Die Arbeitslosigkeit schoss auf zwanzig Prozent, unter der jungen Bevölkerung setzte ein wahrer Exodus ein, 300.000 junge, gut ausgebildete Portugiesen kehrten ihrem Land den Rücken, auf der Suche nach einer Zukunft, die mehr versprach als 500 Euro Mindestlohn. Sagen wir es in wienerischem Understatement: Wirklich gut waren die Voraussetzungen für eine Wiederauferstehung Lissabons nicht.

im Kaffeehaus Lisboa

Rainer Springenschmid

Bei der Eröffnung vor knapp zehn Jahren hat das Kaffeehaus Lisboa eines der ersten ausländischen Gastronomiekonzepte nach Lissabon gebracht. Heute haben sich das Viertel Chiado und die ganze Stadt total gewandelt.

So etwas wie Optimismus

Doch vor zwei, drei Jahren tat sich etwas, das ich damals kritisch sah und als eine Art katholisch geprägte Mentalität, sich seinem Schicksal zu ergeben, verstand: Die eigentlich mit einer gesunden Melancholie ausgestatteten Portugiesen raunzten etwas weniger und machten sich an die Arbeit. Statt zu demonstrieren entdeckten die jungen Leute, die blieben, eine neue Kultur des Unternehmertums für sich. Neue Bars, Restaurants und Shops machten reihenweise auf und innerhalb weniger Jahre wurde mit tatkräftiger Unterstützung der Stadtverwaltung quasi aus dem Nichts eine Start-up-Szene aus dem Boden gestampft, die heute, wenngleich immer noch auf niedrigem Niveau, zu den dynamischsten Europas zählt.

Und als Ende 2015 die Sozialisten unter dem früheren Lissaboner Bürgermeister Antonio Costa mit Duldung der seit jeher verfeindeten Kommunisten und des Linksblocks die Regierung übernahmen, änderte sich auch die Stimmung schlagartig. Während die europäischen Austeritätsapologeten von Wolfgang Schäuble bis Jerome Dijsselbloem angesichts der versprochenen Abkehr von der jahrelangen Sparpolitik in Panik verfielen, machte sich in Portugal plötzlich so etwas wie Optimismus breit.

Die Startup-Szene als Motor

Eineinhalb Jahre ist das jetzt her – und siehe da, die angekündigte Katastrophe ist trotz des Politikschwenks nicht eingetreten. Ganz im Gegenteil, Portugal verzeichnete im vergangen Jahr mit 2,1 Prozent des BIPs das geringste Budgetdefizit seit 1974, die Wirtschaft wächst, der Tourismus boomt, die Arbeitslosigkeit geht zurück und Lissabon ist drauf und dran, zu einem der heißesten Start-up-Pflaster in Europa zu werden. Portugal ist ein großes Labor für linke Krisenpolitik – die Pensionen wurden, so wie der Mindestlohn, wieder auf Vorkrisenniveau angehoben, Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst zurückgenommen und Sozialleistungen erhöht.

Lissabon

Fernando Guerra_Courtesy EDP Foundation

Heuer hat am Ufer des Tejo ein neues Museum für zeitgenössische Kunst, Architektur und Technologie, das MAAT, eröffnet.

Betrieben wird es von der Stiftung des ehemals staatlichen Energieversorgers EDP, der 2011 von der damaligen konservativen Regierung privatisiert worden war.

Derzeit scheint das Experiment aufzugehen. Überm Berg ist der Patient am Atlantik zwar noch nicht – Altlasten wie der hohe Schuldenstand, schwächelnde Banken und schlechte Ratings bei den Kreditagenturen sind auch heute noch eine Gefahr für das zarte Aufschwungspflänzchen – aber die wirtschaftliche Intensivstation hat Portugal hinter sich gelassen.

Am deutlichsten wird das, wenn man sich die Zahl der Firmengründungen ansieht. Mit Hunderten Start-ups, die in den vergangenen Jahren gegründet wurden, unterstützt von mittlerweile siebzehn Inkubatoren und Business Accelerators, entwickelt sich die Lissaboner Start-up-Szene in einer beeindruckenden Geschwindigkeit, schneller als in jeder anderen europäischen Stadt. 2015 wurde Lissabon mit dem erstmals verliehenen Preis Europe’s most entrepeneurial region ausgezeichnet. Und als sich die Stadt auf den sieben Hügeln gegen eine Vielzahl anderer Konkurrenten durchsetzte, zumindest bis 2018 den Web Summit ausrichten zu dürfen, schaffte sie es endgültig auf die Landkarte der führenden Start-up-Hubs Europas. Die Konferenz, in den vergangenen sieben Jahren in Dublin angesiedelt und oft als „Davos für Geeks” bezeichnet, ist einer der einflussreichsten Treffen der weltweiten Tech-Elite. Investoren treffen hier auf Gründer aus der ganzen Welt, untertags im Konferenzzentrum, abends in Bars mit einem Bier in der Hand.

„Die Krise war eine Art Initialzündung“, sagt Miguel Fontes, Direktor des von der Stadtregierung und einer Bank finanzierten Inkubators Startup Lisboa. Allerdings nicht in der Art und Weise, wie es oft zu hören sei. „Es ging nicht darum, dass die jungen Leute keine Jobs hatten und aus der Not heraus ein Start-up gründeten. Die Krise hat uns, oft auf schmerzhafte Weise, gezeigt, dass es so etwas wie einen sicheren, lebenslangen Job nicht mehr gibt. Das hatte einen massiven Einfluss auf unsere Unternehmenskultur. Etwas Eigenes zu versuchen, sehen die jungen Portugiesen nicht mehr als Risiko, sondern als Chance.“ Vom Himmel gefallen sei die Entwicklung aber nicht: „Ich möchte die Krise nicht überbewerten. Die Regierung und die Stadt haben viel dafür getan, ein attraktives Ökosystem für junge Unternehmer zu schaffen. Die portugiesische Politik hat schon seit über zwanzig Jahren ein starkes Augenmerk auf Kultur, Bildung und Wissenschaft gelegt. Der Start-up-Boom ist also kein Kind der Krise, sondern ein Kind guter Bildungspolitik.“

Lissabon

Rainer Springenschmid

Economy is pop: Das städtische Gründerzentrum Startup Lisboa ist aus dem Bürgeretat hervorgegangen, einem Bürgerbeteiligungsverfahren, das über Teile des Budgets der Stadt entscheidet. Inkubatoren wie Startup Lisboa oder der private Verein Beta-i betreuen Startups aus ganz Europa, die sich in Lissabon ansiedeln oder hier entstehen und locken ausländisches Kapital ins Land.

Kreative aus der ganzen Welt ziehen in Scharen in die Stadt am Tejo, angezogen von leistbaren Mieten, der florierenden Kaffeehaus- und Barszene und einer neu entdeckten Bohemien-Kultur. Hinzu kommt eben das attraktive Start-up-Ökosystem. „Ich habe mich sofort in Lissabon verliebt, als wir letztes Jahr das erste Mal hier waren“, sagt Christian Dvorak, in Österreich unter seinem Künstlernamen Christian Candid und als Gründer von Klein Records bekannt. Nach acht Jahren in London, wo er zuletzt die Gästelisten-App Snafflz aufbaute, machte er 2016 Lissabon neben Wien zu seiner zweiten Heimat. Gründe gäbe es viele: „London hat natürlich Vorteile, aber grundsätzlich hast du dort kein gutes Umfeld“, sagt er über die britische Hauptstadt. Extrem hohe Mieten, enorme Kosten, schwer, gute Programmierer zu finden, weil die von den großen Konzernen direkt von der Uni weggekauft werden. Alles Dinge, die in Lissabon kein Thema wären. „Die hohe Lebensqualität hier kommt natürlich auch noch dazu. Das warme Wetter, die nahen Strände, das gute Essen, die Architektur. Ich fühle mich in Lissabon extrem willkommen. Die Aufbruchsstimmung, die hier herrscht, hat mich sofort angesteckt.“

Die Schattenseiten des Booms

Gäbe es den Begriff Gentrifizierung nicht, dann müsste er für das, was gerade in Lissabon passiert, erfunden werden – womit wir wieder beim Anfang der Geschichte angelangt sind. Die Lissaboner Renaissance erinnert frappierend an den Wandel, den Berlin seit der Wende durchgemacht hat – nur dass dieser Wandel hier wesentlich schneller geht. Es wirkt so, als ob die Stadt so rasch wie möglich aufholen möchte, was sie in den letzten Jahren verpasst hat. Und wie in Berlin hat die Entwicklung, so positiv sie für die Stadt im Allgemeinen auch ist, seine Schattenseiten. Vor allem in den Innenstadtbezirken haben sich die Mietpreise in den vergangenen zwei Jahren nahezu verdoppelt und sind mittlerweile auf Wiener Niveau. Dreizimmerwohnungen, die 2015 noch 600 Euro monatlich gekostet haben, sind heute nicht mehr unter 1.000 Euro zu bekommen. Für viele junge Lissabonner ist eine Wohnung im Zentrum kaum mehr leistbar, und die, die es sich leisten könnten, finden keine, weil viele Wohnungen nur noch kurzfristig an Touristen vermietet werden. Lange leerstehende, heruntergekommene Häuser werden zwar endlich renoviert, aber als Hotels wiedereröffnet.

Lissabon

Rainer Springenschmid

Leere Häuser oder Ruinen findet man in Lissabon immer noch an jeder Ecke. Street Art auch - manchmal sogar dreidimensional.

Goldene Visa

Verschärft wird die Situation noch durch das „Goldene Visa“-Programm, das die liberal-konservative Vorgängerregierung 2013 eingeführt hat und heute eine der wichtigsten Quellen ausländischer Direktinvestitionen ist. Interessenten aus Ländern außerhalb der EU können sich im Rahmen des Programms eine Aufenthaltsgenehmigung erkaufen, indem sie entweder eine Immobilie im Wert von mindestens einer halben Million Euro erwerben, eine Million Euro in ein portugiesisches Unternehmen investieren oder zumindest zehn Arbeitsplätze schaffen. 2,5 Milliarden Euro kamen so seither ins Land, doch was ein Segen für das klamme Staatsbudget ist, treibt die Immobilienpreise rapide in die Höhe, denn natürlich greifen die meisten „Golden Visa“-Inhaber auf die leichteste und sicherste Form der Investition zurück und kaufen den Wohnungsmarkt in Lissabon leer. Wo das hinführen kann, zeigen Beispiele wie Vancouver, wo durch ein ähnliches Programm eine riesige Immobilienblase entstand.

Barcelonisierung

In Lissabon geht bereits die Angst um, dass der rasche Wandel dazu führt, dass die Stadt ihre Identität verlieren könnte. „Barcelonisierung“ wird das hier genannt. Die Stadt im benachbarten Spanien dient hier als Inbegriff für die negativen Auswirkungen eines überbordenden Tourismus- und Immobilienbooms. So schlimm wie in Barcelona ist es zwar noch nicht, viele Bewohner befürchten aber, dass auch hier die Tiefe der Stadt mit ihrer langen Geschichte und reichen Kultur von einer für Touristen genormten Fassade unterminiert wird.

Gerade Lissabon hat viel zu verlieren. Die Identität der Stadt beruht auf Subtilität, ihr so oft beschriebener Charme offenbart sich erst im Zwischenton und in ihren Widersprüchen. Lissabon ist vor allem auch deshalb solch ein lebenswerter Ort, weil es so offen ist und niemanden ausschließt. Mouraria ist so ein Beispiel. Das multikulturelle, pittoreske Viertel ist einer der ärmsten Bezirke Lissabons und doch nur einen Steinwurf vom pulsierenden Shoppingviertel Baixa entfernt. Die ärmeren Bewohner dort laufen Gefahr, verdrängt zu werden. Und damit würde wesentlich mehr verloren gehen, als durch etwas mehr Platz für Ferienwohnungen gewonnen werden kann.

wild #chiadolisboa

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Zum nachhören:

Das Lissabon-Special aus der FM4 Homebase vom Montag, 31.7.2017 gibt es 7 Tage lang im FM4 Player on demand.

Vom Kaffeehaus Lisboa haben wir in der Morning Show berichtet.

Und von Lissabon als Startup-Hotspot in Connected.

Keine Frage: Dass Lissabon wieder zu neuem Leben erweckt wird, ist eine gute Sache und höchst an der Zeit. Allerdings sollten tunlichst die Fehler vermieden werden, die andere Städte wie Berlin, London oder Barcelona bereits bereuen. Vielleicht kann Lissabon ja nun auch Labor dafür werden, wie eine Stadt urbanen Aufschwung mit dem Erhalt seiner Eigenheiten und seiner sozialen Vielfalt verbinden kann – dann könnte hoffentlich bald ein neuer Slogan angestimmt werden. Nicht mehr arm, immer noch sexy!

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