FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Ghostpoet in Schwarz-Weiß

facebook.com/ghostpoetfb

Artist Of The Week

Erkundungen der Gegenseite von Euphorie

Auf dem neuen Album „Dark Days & Canapés“ von Ghostpoet geht es nicht um eine persönliche Krise. Sondern um die Dunkelheit, die entsteht, wenn man versucht, sich mit der Welt zu konfrontieren.

Von Natalie Brunner

„Dark Days & Canapés“ ist ein Album, das den Finger auf den Riss legt, der unsere Zeit bestimmt. Auf der einen Seite die Canapés, die aufwendigen Brötchen oder Bäckereien, die auf silbernen Tellerchen zu Tee oder Kaffee gereicht werden. Auf der anderen Seite die Dark Days.

Plattencover von "Dark Days 6 Canapés"

Ghost Poet

„Dark Days und Canapés“ von Ghostpoet ist am 18. August erschienen.

Die Dunkelheit, von der Ghostpoet spricht, ist keine persönliche Krise, sondern die humanitäre, soziale, politische und moralische Krise, in die Europa gestürzt ist. Ghostpoet will nicht in empathie-freien Floskeln wie zum Bespiel „humanitäre, soziale, politische und moralische Krise“ kommunizieren. Er will, dass uns klar ist, was er mit Dark-Days-Zeiten meint, dass Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, zwischen Zügen und Gleisen zerquetscht werden, in LKWs ersticken, in selbsterrichteten Zeltstädten leben, die von den Behörden dem Erdboden gleichgemacht werden. Und wenn sie das überlebt haben, oft auf der Flucht bleiben, als Schmarotzer, als Problem, im besten Fall noch als Gäste, bezeichnet werden.

Zu noch größerer Dunkelheit tragen rechte Gruppierungen bei, die aus dem Elend ein Bedrohungsszenario für hellhäutige Canapés-Esser_innen konstruieren, und inkontinente Jünglinge, die zu viele Actionfilme gesehen haben und mit gemieteten Söldnern ihren Teil dazu beitragen wollen, diese Epoche zu einer noch düsteren zu machen. Das sind die Dark Days, die Ghostpoet meint. Und nicht ein depressives Episödchen, weil der Tag nicht gerade so swingt, die Canapés nicht so munden.

Konstruierte Heimeligkeit vs. Realität

„Dark Days & Canapés“ ist das vierte Album des 1983 geborenen Musikers und Dichters Obaro Ejimiwe. Die extreme sprachliche Präzision und die sofort Bilder evozierende Metaphorik verbindet sein aktuelles Album in gewisser Weise mit seinem Debüt aus dem Jahr 2011. Von „Peanut Butter Blues & Melancholy Jam“ ist es nicht weit zu Canapés und Dark Days. Beide Titel stellen eine konstruierte, sichere Heimeligkeit einer schwer zu ertragenden Realität gegenüber.

Die erste Single-Auskoppelung aus dem aktuellen Album gibt die sprachliche und thematische Richtung vor: In „Immigrant Boogie“ ist der Monolog eines Vaters zu hören, der mit Frau und zwei Kindern auf einem sinkenden Boot im Mittelmeer ertrinkt. Und der sein Mantra

We never bite
Me and the four kids, show some love
Then it will all be right
We won’t stay
Grand promise in every way

vor sich hin sagt, während sich seine Lungen mit Wasser füllen.

Übersättigte Welt

Ein weiterer Song, „Freak Show“, führt uns in eine übersättigte, emotional leere Welt, in der kapitalistische Strukturen sich wie ein Geschwür in unser Gefühls- und Seelenleben eingeschrieben haben. Euphorie und Soma, in Pillen- oder Produktform. Ghostpoet meint über diese Nummer:

„Freakshow is a kind of commentary on modern consumerism - it sums up my general sense of unease in the way we buy our emotions these days, and the unstoppable cash-driven churn we seem to be caught up in as a society.”

Dunkles Moll-Gewand

Das dunkle Moll-Gewand, in das die Geschichten von Ghostpoet gehüllt sind, könnte von Massive Attack gewebt worden sein. Ist es auch zum Teil, durch freundschaftliche und Gesinnungs-Nähe. Daddy G selbst ist auf der Nummer „Woe is me“ im Duett mit Ghostpoet zu hören.

Dub, Hip Hop, Electronica und Post Punk hat Ghostpoet zu etwas verwebt, das als eine Erkundung der Gegenseite von Euphorie umschrieben werden könnte. Es ist ein Album, das mir trotz seines reflektiven Mehrwerts emotional zusetzt. Die Canapés sind nicht leicht verdaulich und das ist Empfehlung und Warnung zu gleich.

Aktuell: