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Grizzly Bear

Tom Hines

Hübsche Ruinen

Los Angeles statt New York. Sanders statt Trump. Heavy sounds statt zarte Weisen. Grizzly Bear haben mit „Painted Ruins“ ein etwas anderes, aber gewohnt starkes Album veröffentlicht.

Von Christian Lehner

Ganz Gallien? Ganz Gallien, mit Ausnahme eines Dorfes! Was aber, wenn in diesem Dorf keine Gallier mehr leben? Wann der Exodus begonnen hat, ist heute nicht mehr so genau nachvollziehbar. Fakt ist, dass kaum noch eine Band des Brooklyn Hypes von vor über zehn Jahren heute noch in Brooklyn residiert. Kauzige Kapellen wie das Animal Collective, TV on the Radio, oder die Dirty Projectors, einst Aushängeschilder des Bandwunders am East River, sind längst geflüchtet. Vor den hohen Mieten und den neuen Mietern. Williamsburg wurde zum Paradebeispiel dafür, was man heute Gentrification nennt. Die Kolonie hat sich selbst erledigt.

Aber es gibt Neuland, das in Wahrheit auch nicht mehr so neu ist. Kalifornien muss es sein, aber nicht San Francisco mit seinen Tech-Menschen, die auch dort die Lebenskosten in unerreichbare Höhen getrieben haben. Los Angeles ist (wieder einmal) der goldene Ort von künstlerischen Träumen und einer bezahlbaren Gegenwart.

„Mittlerweile leben drei von vier Bandmitgliedern hier“, erzählt Ed Droste, Sänger von Grizzly Bear, einer der wichtigsten Bands des Brooklyn-Hypes. Schlagzeuger Chris Bear sitzt daneben und nickt. Er ist erst vor wenigen Monaten umgezogen. Da waren Ed und Keyboarder Chris Taylor, der einen Zwischenstopp in Berlin eingelegt hatte, schon da.

Standortfragen

Ein bisschen wie die Beach Boys, also so wie die Klischeevorstellung von Kalifornien, haben Grizzly Bear schon immer geklungen. Ihr zarter Folk- und Psychedelic Sound, wurde stets auch als Fluchtgedanke gelesen, als Wanderbewegung der Gedanken in die Natur - ganz im Geiste des Schriftstellers und Proto-Hipsters Henry David Thoreau.

Grizzly Bear Cover 'Painted Ruins'

RCA Records

„Painted Ruins“ von Grizzly Bear ist auf RCA Records erschienen.

„Los Angeles hat sich stark verändert. Es ist viel grüner als New York und man hat alle möglichen Klima- und Landschaftszonen in Reichweite“, bestätigt Ed Droste, der aus dem frostigen Boston stammt, „Und da ist ja auch noch die ewige Sonne“. In New York zurückgeblieben ist einzig Co-Sänger Daniel Rosen - allerdings nur im Bundesstaat, ist er doch in die sanften Berge von Upstate New York gezogen. Dessen landschaftliche Pracht erstreckt sich nördlich von NYC entlang des Hudson River. Es ist ein Rückzugsort für Künstler und war schon immer fruchtbarer Boden für die Rockmusik. Woodstock und Bethel befinden sich in der Nähe, viele Tonstudios haben sich dort niedergelassen, auch Grizzly Bear haben ihr neues Album in Upstate aufgenommen.

Grizzly Bear sind also von den Horrormieten direkt in die Erdbebenzone der USA getapst. Ed und Chris scherzen: „Seit Trump ist ohnehin die gesamte Nation ein Krisengebiet. Alle warten auf das große Beben.“ Grizzly Bear engagierten sich im Wahlkampf für Bernie Sanders, den Linksaußen-Kandidaten der Demokraten.„Painted Ruins“, also „übermalte Ruinen“, so der Titel des neuen Albums, ist ein schönes Bild für das Chaos in Washington, aber es ist trotzdem keine politische Platte geworden. Zumindest nicht explizit. Das war auch nicht zu erwarten von einer Band, die Texte eher als impressionistische Farbtupfer betrachtet. Dennoch wirkt die Musik dunkler und kräftiger als auf den Vorgängeralben.

Schroff und lieblich

„Das gesellschaftspolitische Klima ist so vergiftet, da braucht es keine vergiftete Platte. Klar ist aber auch, dass einzelne Textfragmente oder Stimmungen Resultat dieses ganzen Wahnsinns sind“, sagt Droste. Dann erzählt er, dass Grizzly Bear auf Twitter den Zorn viele Trump-Wähler auf sich gezogen haben. „Es ist kurios, aber viele dieser Trump-Anhänger haben sich als Fans unserer Musik geoutet. Die haben wir wohl mit unserem Engagement enttäuscht“. Die Sorge gelte nun den vielen Menschen, die außerhalb der liberalen Blasen in den Trump-Hochburgen leben und zu einer Minderheit gehören. „Die Tour im Oktober wird sehr interessant. Sie wird uns in alle Teile des Landes führen. Wir sind gespannt und hoffen, dass wir zumindest etwas Mut verbreiten können“.

„It’s chaos but it works“, ist so eine Textpassage, die Daniel Rosen politisch motiviert geschrieben hat und die sich im Song ‚Four Cypresses‘ findet. In den Reviews wird diese Zeile allerdings als Schlüssel zum Verständnis der Arbeit an „Painted Ruins“ interpretiert. Wie das 2017 nicht unüblich ist, verwendeten auch Grizzly Bear Filesharing-Services, um erste Ideen und Fragmente auszutauschen. Danach wurde es etwas romantischer. „Wir ziehen uns meist zu zweit auf „writing retreats“ zurück“, so Chris Bear. Grizzly Bear feilten an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Konstellationen an den Songs. „Dann haben wir im Studio den Deckel draufgemacht. Es ging dieses Mal sehr schnell.“

„Painted Ruins“ ist ein Album für Menschen, die gern tief in die Musik eintauchen. Über nun fünf Alben haben Grizzly Bear die Kunst perfektioniert, aus komplexen Arrangements und Stimmungen leichtfüßige Popsongs zu destillieren. So schaffte es das letzte Album „Shields“ auf den siebenten Platz der Billboard 200 Charts – für eine Band aus dem Indie-Umfeld ein Überraschungserfolg. Für „Painted Ruins“ haben Grizzly Bear die Regler am Mischpult etwas verstellt. Die Drums marschieren in den Vordergrund. Manchmal tauchen sogar wavige Synths auf, doch schon bald legen sich wieder sanfte Stimmen über die hohen Klanggerüste. Die Single „Mourning Sound“ ist ein Beispiel für die neue Linie. Bass und Schlagzeug klingen nicht nur wie von einem Interpol-Album gesampelt, sie beharren auch den Großteil des Songs auf ihrem schroffen Thema. So schafft man es, mit kleinen Ausfallschritten große Sprünge zu machen.

Grizzly Bear in Berlin

Christian Lehner

Zwei Grizzlybären in Berlin. Ed Droste (links) und Chris Bear (rechts).

Obwohl Grizzly Bear längst als international etablierte Band gelten und erstmals bei einem Major-Label veröffentlichen, machen sie den Fortbestand ihrer Band von der Qualität der Musik abhängig. „Viele Bands produzieren Platten, weil sie müssen, weil es eine vertragliche Verpflichtung gibt, weil eine Tour ansteht. Wir haben uns vorgenommen, nie in diese Falle zu tappen“, so Droste abschließend. „Wenn wir nicht mehr zufrieden sind mit der Musik, machen wir etwas anderes. Wir sind zwar alt, aber so alt auch wieder nicht.“ Es ist diese Einstellung, die 2017 den äußerst schwammig gewordenen Begriff „Indie“ jenseits ästhetischer Genrezuschreibungen am Leben hält. Standort egal.

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