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ROBERT ROTIFER

Die Bedrohung ist real

Ein paar schlaflose Gedanken zum heidnischen Glauben an die höhere Wahrheit am Beispiel des Falls Trump/Britain First.

Von Robert Rotifer

Ich weiß nicht, ob man einen Blog in den durchwachten frühen Morgenstunden schreiben sollte, das mögen die Kolleg_innen von der Redaktion entscheiden, wenn sie ihn später lesen, aber hier und jetzt, um dreiviertel vier in der Früh kann und will ich diese Gedanken, die mich vom Schlafen abhalten, nicht einfach verpuffen lassen.

Was mir schon seit Stunden durch den Kopf spukt, sind die Worte der Pressesprecherin des Weißen Hauses, die ich gestern Abend in allen britischen Nachrichtensendungen zu sehen bekam. Sie rechtfertigte das Verhalten ihres Chefs, des Präsidenten, der hetzerische Tweets der Vize-Chefin der rechtsextremen britischen Splittergruppe „Britain First“ verbreitet hatte: Arbiträr aus dem Internet gefischte Videos von Gewaltakten, die die neofaschistische Twitterantin als vermeintliche muslimische Missetaten ausgab. Es spiele gar keine Rolle, ob diese Videos oder deren behaupteter Kontext echt oder falsch wären, sagte die Pressesprecherin, denn „die Bedrohung ist real.“ So viel ich aus den britischen Nachrichten mitbekommen konnte, sprach sie nicht einmal aus, um welche „Bedrohung“ es sich dabei handelte. Weil wir eh alle Bescheid wussten.

Und tatsächlich war da eine reale Bedrohung mit im Spiel, aber sicher nicht jene, die die Pressesprecherin meinte. „Keep Britain First“, das waren nämlich die Worte, die im Frühling 2016, nur eine Woche vor dem britischen EU-Referendum der Attentäter Thomas Mair ausrief, während er die Unterhaus-Abgeordnete Jo Cox umbrachte.

Man brauchte sich nicht lange zu fragen, wo er das her hatte. Im Anlauf zum Referendum war auch meine Timeline auf Facebook von gesponserten Posts aus der Propagandawerkstätte von Britain First überschwemmt worden. Und zwar genau ab jenem Zeitpunkt, als ich mir die vor Fehlinformationen strotzende europafeindliche Netz-Doku „Brexit – The Movie“ angesehen hatte. Ein Facebook-Freund aus Österreich hatte mich darauf hingewiesen, dass seine britischen FB-Bekanntschaften dieses Video teilten. Ich kann also davon ausgehen, dass die Algorithmen auch deren Timelines Werbeeinschaltungen von „Britain First“ zugespielt haben.

Es ist auch nicht schwer nachvollziehen, wie ein Präsident, dessen eigener Slogan „America First“ lautet, sich dem Sentiment dieser rechtsextremen Splittergruppe zugeneigt fühlen kann. Wie es scheint, kam Trump über den Twitter-Feed der stets als „konservativ“ bezeichneten, nach allen Maßstäben meines politischen Erlebens aber eindeutig rechtsextremen amerikanischen Kommentatorin Ann Coulter an die Videos heran. Auch sie wurde dafür von der britischen medialen Öffentlichkeit selbstverständlich mit Aufmerksamkeit in Gestalt eines Live-Interviews in den tendenziell progressiv-liberalen Channel 4 News belohnt. Ebenso wie besagte, von Trump und Coulter per Twitter prominent gemachte Vize-Chefin von Britain First, die man dann von ihrem – immerhin aufgezeichneten – Interview empört davonlaufen sah. Der seriöse Journalismus, wollte man uns vermitteln, hatte die rechte Propagandistin mit seinen tiefschürfenden Fragen also völlig aus der Fassung gebracht. Tatsächlich hatte sie publicitymäßig wohl ihren besten Tag erlebt. Neben Channel 4 wurde sie gestern auch noch von der BBC interviewt, dazu wurden Bilder ihrer Reden und öffentlichen Auftritte und ihr Twitter-Handle flächendeckend in die Welt hinausgetragen.

Sowohl die Britain-First-Sprecherin als auch Ann Coulter vertraten dieselbe Linie wie Trumps Pressesprecherin: Es sei unerheblich, ob der Beleg einer Aussage wahrhaftig ist, solange die Aussage stimme. Und dass die Aussage stimmt, das weiß man sowieso. Wer das anzweifelt, ist der eigentliche Heuchler. Schon ist der Spieß umgedreht.

Das wiederum entspricht genau der Argumentation, die ich in der eigenen Facebook-Blase bei einer anderen Gelegenheit mehrfach zu lesen bekam. Zum Beispiel rund um den Fall der Studie über sogenannte „Islamkindergärten“ in Österreich. Als die Wiener Stadtzeitung Falter berichtete, dass jene in ihren Schlussfolgerungen entgegen der erhobenen Erkenntnisse grundlegend verändert worden sei und die Spuren dieser Verfälschungen in jenes Ministerium führten, das der künftige österreichische Bundeskanzler leitete, las ich auf meiner Timeline unzählige Varianten genau dieser Reaktion: „Ist doch egal, ob’s stimmt oder nicht, die Bedrohung ist real.“

Keine Sorge, ich behaupte nicht, dass solche Prozesse nur „die andere Seite“ betreffen. Sie sind überall zu finden, wo sich Annahmen bestätigt sehen wollen. Die corbynistische britische News-Website The Canary etwa tut sich seit einiger Zeit mit einer Serie von Falschmeldungen hervor, deren Verbreitung ihre politischen Anliegen diskreditiert, und trotzdem tauchen ihre Storys immer noch beharrlich in meinen Timelines auf. Es ist dieses zunehmend insistente Glaubenwollen, nicht das hundertmal abgehandelte, schnelle Feindbild der „fake news“, das mir heute Nacht durch den Kopf spukt. Vielleicht auch, weil ich vor dem Schlafengehen James Meeks Essay „Against Passion“ im aktuellen London Review of Books zu den beiden Büchern „The Once and Future Liberal: After Identity Politics“ und „The Shipwrecked Mind: On Political Reaction“ von Mark Lilla gelesen habe.

Mit Bezug auf den 1985 verstorbenen erklärten Nazi und Staatsphilosophen Carl Schmitt, einem Beispiel für von falschen Ideen korrumpiertes Intellekt, also die von Mark Lilla beschriebenen „Shipwrecked Minds“, schreibt Meek: „Am Aufstieg von Trump ist einiges Schmittianisches dran. Den Freund vom Feind zu unterscheiden, ist, was der neue Präsident tut. Seine liebsten Ideologen predigen Verachtung für den Liberalismus und begrüßen die Idee einer Welt voller Feinde Amerikas. Sie wollen, dass diese Feinde amerikanische Macht nicht bloß respektieren, sondern fürchten. Doch das, woran ich denken musste, als ich Lillas Essay über Schmitt las, war der Brexit: Wie eine liberale Demokratie mit einem scheinbar robusten Repräsentations- und Justizsystem, das gewohnt ist, zahllose Interessensgruppen, Projekte und Regulierungen in der Balance zu halten, sich plötzlich über Nacht, zumindest für die Dauer einer Generation, der aus einem Wort bestehenden Antwort auf eine 16 Wörter zählende Frage unterworfen sah. Eine kleine Mehrheit des britischen Volks fand ihren auserwählten Feind in der Europäischen Union, und der Brexit steht über allem als stummer Souverän, der das Parlament miteinschließt, statt von ihm umschlossen zu werden. Aber nicht nur das: Genauso wie Schmitts scheinbarer ‚Realismus‘ gegenüber einer Welt, die sich in Freunde und Feinde teilt, bei näherer Betrachtung einer antisemitischen, unchristlichen Gottheit weicht, die Menschen in den Krieg treibt, stellen sich auch die vermeintlich nüchternen, vernünftigen Ideologen des Brexit als Verbreiter einer heidnischen Religion britischer Ahnenverehrung heraus. Einer Mythologie des britischen Exzeptionalismus, die auf eine Zukunft projiziert wird, welche einzig auf dem Glauben aufbaut.“

In anderen, zur Affäre um Trump und Britain First analogen Worten: Die Bedrohung ist real, das eigene Gefühl dazu ist real, und die eigene (nationale) Identität als das einzig Gewisse kommt immer zuerst. Ob es Belege für diese Wahrnehmung gibt oder ob diese stimmen, ist gänzlich irrelevant. Und unweigerlich muss ich dabei auch an den neulich gesehenen Trailer für „Darkest Hour“, den kommenden, neuen Churchill-Film mit Gary Oldman in der Hauptrolle denken. Und an die derzeitige Vorliebe für historische Dramen mit ihrer Tendenz zu durch erzählerische Interventionen schlüssiger gemachten Narrativen, und das in einer Zeit, in der es die Technologie erlaubt, lebenden wie toten Menschen in Bild und Ton Worte in den Mund zu legen. Wo der Zweifel am Gesehenen und Gehörten schon so selbstverständlich ist, dass man ihn auch gleich wieder wegrechnen kann, und sich somit der „Realismus“ des sich selbst bestätigenden Glaubens zum ultimativen Bezugspunkt erhebt.

Oder, wie Meek es ausdrückt: „So metaphysische Ideen wie Patriotismus, die eigene Identifizierung mit dem Heldentum von Vorfahren in Kriegen, in denen man selbst nicht gekämpft hat, die Einheit von Land und Volk, die spezielle Heiligkeit bestimmter Gräber und Landzeichen, die Riten des Pilgerns zu von der vergangenen Gegenwart mythologisierter Figuren einer nationalen Geschichte gesegneten Schauplätzen oder das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Landschaft und die Angst vor deren Schändung durch solche, die da nicht hingehören, sind in den meisten Wählern vorhanden. Dies ‚Kultur‘ zu nennen erfasst nicht ganz die Tatsache, dass selbst die am wenigsten Religiösen unter uns vermutlich neoreligiöse Gefühle hegen, und dass sogar die Christlichsten, Muslimischsten oder Jüdischsten unter uns wohl einen Anteil solch heidnischer Begriffe wie des Patriotismus in uns tragen.“

Mangels theologischer Bildung kann ich nicht sagen, ob Patriotismus, wie Meek es ausdrückt, per se „heidnisch“ sein muss. Aber es ist klar, was er meint: Wenn die technologische Revolution einmal den Begriff des Belegs und des Faktums abgeschafft hat, sind wir bereits wieder in einer Art hyper-technisiertem Neo-Mittelalter angelegt, wo der mystische Glauben die Realität besiegt. Und dieser furchterregende Gedanke allein ist schon Grund genug, einem den Schlaf zu rauben. Die Bedrohung ist in der Tat real.

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