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Simon Zirkunow (CC BY-SA 2.0)

Interview

„Das ist leider nicht überraschend“

Um Missbrauch vorzubeugen, müssen TrainerInnen, Kinder und Eltern gleichermaßen aufgeklärt werden und sich an gewisse Regeln halten. Wir haben mit der Sportwissenschaftlerin und Psychologin Chris Karl gesprochen, die Sensibilisierungsarbeit leistet.

Von Lukas Lottersberger

Noch ist das Ausmaß des Missbrauchs an den zwei Tiroler Skisport-Schulen und -Internaten nicht bekannt, doch seit Beginn der Woche geht die Staatsanwaltschaft Hinweisen nach. Dazu wurde am Dienstag auch Nicola Werdenigg befragt, die die Debatte rund um Missbrauch in Skisport-Schulen ins Rollen gebracht hat.

Titelbild von Simon Zirkunow unter CC BY-SA 2.0 Lizenz via flickr.

Was dürfen Trainer heute überhaupt tun, warum schweigen die Opfer oft so lange und wie kann man verhindern, dass sich ein solcher Machtmissbrauch an Minderjährigen fortsetzt? Die forensische Psychologin, ehemalige Leistungssportlerin und Trainer-Ausbildnerin Chris Karl erklärt uns das im Interview.

Lukas Lottersberger: Überrascht es sie, dass so etwas in Sportschulen bzw. -internaten vorgefallen ist?

Chris Karl, Psychologin

Christian Maislinger

Chris Karl ist Sportwissenschaftlerin und Psychologin.

Mit ihrem Verein kimi führt sie Sensibilisierungsmaßnahmen in Sportvereinen und bei TrainerInnen durch.

Chris Karl: Nein, das ist überhaupt nicht überraschend. Wenn man sich die Statistiken und die Zahlen weltweit ansieht, ist das ein „normales“ Phänomen, weil Täter die Nähe zu ihren Opfern suchen. Nicht weil im Sport so viele Sexualtäter unterwegs sind. Es ist genau umgekehrt. Die Täter suchen sich Betätigungsfelder im Sport, wo die körperliche Nähe gegeben ist und deswegen ist es leider nicht überraschend.

In manchen Kommentarspalten im Netz regen sich Leute auf, dass es immer nur schwammige Aussagen gibt - eben oft erst Jahre später - und dass man vieles nicht beweisen kann. Warum herrscht da oft so ein mangelndes Mitgefühl oder gar Misstrauen?

Teilweise ist das ein österreichisches Phänomen, dass es häufig zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt. Bei allen Fällen, die in der letzten Zeit publik geworden sind, war es so, dass sich ein Teil der Bevölkerung gegen das Opfer gerichtet hat.

Erklärbar ist das vielleicht damit, dass man seine „heile Welt“ nicht zerstört haben will und sich mit Vogelstrauß-Politik und „Kopf-im-Sand-Strategie“ einredet: „Was nicht sein soll/darf, kann nicht wahr sein.“ Das hat man schon beim Fall von Natascha Kampusch gesehen, wo sehr viele Leute gesagt haben, dass das alles so nicht stimmen könne und sie das selber wollte. Das gleiche Phänomen haben wir jetzt bei diesen Fällen.

Nicola Werdenigg

FM4 / Alex Wagner

Ex-Skirennläuferin Nicola Werdenigg im Interview nach ihrer Aussage in Innsbruck zu den geäußerten Missbrauchsvorwürfen im ÖSV.

Glauben Sie, dass eine breite Debatte über solche Fälle und wenn sich Betroffene vermehrt an die Öffentlichkeit gehen, dazu führen kann, dass das Bewusstsein und das Mitgefühl steigt?

Ich glaube, das ist gerade im Gange. Die #metoo-Aktion hat schon ein Umdenken bewirkt, weil die Leute jetzt auch sehen, dass es bei diesen Fällen zwar immer zuerst eine Diskussion gab und ungläubige Reaktionen. Hinterher hat sich aber immer bewahrheitet, dass an den Vorwürfen sehr wohl etwas dran war.

Es gibt natürlich Gründe, warum die Betroffenen so lange schweigen. Erstens ist es immer unangenehm, über so intime Details zu sprechen und was immer übersehen wird: Die Täter kommen aus dem Freundeskreis der Betroffenen. Da überlegt man noch einmal länger, ob man an die Öffentlichkeit geht. Besonders Kinder haben eine große Hemmschwelle, weil die ja nicht wissen, welche Folgen auf sie und auf den Täter zukommen. Die denken oft, da kommt gleich die Polizei und die werden eingesperrt und das könnte die Familie oder die sportliche Karriere zerstören. Es gibt Studien über die Gründe, warum es so schwierig für die Betroffenen ist, darüber zu sprechen.

Oft gibt es ja einen größeren Kreis von „Eingeweihten“ bzw. Leuten, die wissen, was passiert. Warum wird das so lange geduldet?

Man muss die Mitwisser in zwei Gruppen unterteilen: Da gibt es die Mitbetroffenen, die tauschen sich untereinander aus und gehen nicht an die Öffentlichkeit, eben aus den vorher genannten Gründen. Es ist immer peinlich darüber zu reden. Es ist auch Jahre später noch unangenehm, diese Details preiszugeben und es ist einfacher, mit jemandem darüber zu reden, der ebenfalls betroffen ist.

Warum die Offiziellen, die Kollegen und Funktionäre schweigen hat auch mehrere Gründe. Meistens gibt es ja nur Gerüchte – wenn man konkrete Vorfälle nicht kennt. Da will man dann seine Trainer eben auch beschützen. Das ist zwar unerklärlich, aber nur zu bekämpfen, wenn die zuständigen Gremien Mut haben und mit ganz konkreten Regeln vorpreschen, die auch eine Meldepflicht beinhalten sollen. In anderen Ländern gibt es das. Wenn man dort von einem Verdacht erfährt, dann muss dieser gemeldet werden.

Sie halten ja selbst auch Workshops für TrainerInnen. Wie groß ist denn da das Bewusstsein dafür, was erlaubt ist und was nicht?

Zunächst stößt man bei manchen Dingen schon auf Unverständnis, gerade wenn man „Garderoben-Situationen“ anspricht oder wenn es um das „Sechs-Augen-Prinzip“ geht, das besagt, dass ein Trainer nie alleine mit einem Kind sein soll. Oder wenn es um die Kommunikation geht: Dass es keine Kommunikation über SMS oder WhatsApp nur alleine zwischen dem Kind und dem Trainer gibt, sondern dass die Eltern eingebunden werden sollen.

Die erste Reaktion ist immer „Das geht nicht!“ oder „Das ist viel zu kompliziert!“. Wenn man dann aber genauer überlegt und den Trainern erklärt, dass das auch Schutz ist – z.B. gegen falsche Vorwürfe, die es ja auch gibt - dann sickert das schön langsam ein. Wichtig ist, dass die Workshops nicht nur die Trainer adressieren, sondern auch die Kinder mit eingebunden werden. Die Regeln müssen den Trainern, den Kindern und den Eltern bekannt sein. Sonst bringt das nichts.

Haben Vereine in Österreich Regeln, was z.B. Privatsphäre beim Umziehen oder Duschen der Kinder betrifft, die auch allen bekannt sind?

Ich glaube nicht. Das ist ein Thema, das viel zu wenig beachtet worden ist. Teilweise ist es auch wegen der baulichen Situationen in Österreich durchaus normal, dass manchmal Burschen und Mädchen sich gemeinsam umziehen oder sogar gemeinsam duschen, wo sich jahrelang niemand etwas dabei gedacht hat und wo es nie zu grenzüberschreitendem Verhalten kam. Aber so eine Situation eröffnet natürlich den Tätern ganz leicht den Zugang, weil man ja weiß, dass es so ist.

Das Problem ist ja auch, in 95 Prozent der Fälle passiert nichts. Problematisch und schwierig ist es, wenn diese 95 Prozent ehrlicher Trainer, die nie böse Gedanken haben, sich plötzlich an diese Regeln halten müssen. Daher kommt auch dieser Widerstand.

Sie sind ja auch Ansprechpartnerin in Verdachtsfällen. Können Sie kurz erklären, was in einem Verdachtsfall passiert?

Ich kann nur erklären, was passieren sollte. Das Problem in Österreich ist nämlich, dass es keine offizielle, übergeordnete Anlaufstelle gibt. Es gibt mittlerweile in einigen Verbänden so genannte Vertrauenspersonen, die aber geschult werden müssten. Idealerweise sollten ausgebildete Experten mit den Betroffenen sprechen. Je mehr Leute mit der betroffenen Person sprechen, umso schlechter könnten diese Aussagen vor Gericht verwertet werden, weil man sagen könnte „da ist beeinflusst worden“ oder „die sagen nur, was sie sagen sollen“.

Sollte ein Fall eines sexuellen Übergriffs vorliegen, ist es wichtig, dass eine ausgebildete Person mit den Betroffenen spricht, dass es Aufklärung gibt, dass mit anderen Kindern und Jugendlichen gesprochen wird, dass es Workshops gibt und die Eltern eingebunden werden. Aber auch, dass es eine konkrete Anlaufstelle gibt, die ermitteln kann.

Manchmal kommt es zu einem Verdacht und es ist nichts dahinter. Da wäre es wichtig, dass eine objektive Stelle ermittelt, die Situation evaluiert und dann entscheidet. Vielleicht ist es ja ganz leicht zu bereinigen und man braucht vielleicht nur die Garderoben-Situation ändern. Oder aber es ist bereits wirklich etwas vorgefallen und dann muss das selbstverständlich an die Staatsanwaltschaft weitergegeben werden. Das Problem ist, die Staatsanwaltschaft ermittelt erst, wenn genug Hinweise auf eine tatsächlich Straftat vorliegen.

Vielfach wird gesagt, dass das nur die Spitze des Eisbergs sein könnte. Was glauben sie, kommt da noch mehr ans Tageslicht?

Mit Sicherheit. Ich betreue einige Verbände, wo ein Verdacht vorliegt, wo es aber derzeit noch nicht genug Beweise gibt, sodass die Staatsanwaltschaft einschreiten könnte. Es gibt genug Fälle, wo etwas passiert ist, wo aber derzeit keine Möglichkeit besteht, einzuschreiten.

Man muss sich dessen bewusst sein, dass man keine 100-prozentige Schutzeinrichtung haben kann, sodass nie wieder etwas passieren kann. Dieser Realität muss man leider ins Auge sehen. Man kann aber die Kinder entsprechend vorbereiten, dass sie keine leichten Opfer werden. Man kann die Zahl in der Zukunft sicher reduzieren, indem man das Betätigungsfeld der Täter einschränkt und indem man den Zugang zu den Kindern schwieriger macht.

Es besteht ja immer ein ziemliches Ungleichgewicht in der Machtverteilung zwischen TrainerInnen und Kindern. Können Sie dieses Machtverhältnis ein bisschen näher beschreiben und warum es da zu Missbrauch kommt?

Dafür gibt es viele Ursachen und das Machtverhältnis ist ganz leicht zu beschreiben. Es spielen im Grunde drei Faktoren zusammen. Das ist die vermeintliche Autorität des Trainers, wo die Schützlinge des Trainers glauben, sie sind dem Trainer völlig ausgeliefert, was sie ja im Hinblick auf die Karriere, die Kaderauswahl und die Entsendung zu Turnieren usw. ja auch gewissermaßen sind.

Der zweite Punkt ist, dass die Schützlinge den Trainer meistens mögen. In den meisten Fällen besteht eine Art Freundschaftsverhältnis. Man verbringt viel Zeit mit dem Trainer. Man will dem Trainer einen Gefallen tun, man will nett zu ihm sein, man will ihn nicht enttäuschen. Das beginnt mit kleinen Schritten. Es kann harmlos beginnen und dann immer schlimmer und schlimmer werden.

Und dann kommt natürlich noch die „Peer Pressure“, der „Gruppenzwang“ dazu, der in einem Verein oder eine Gruppe herrscht, wo es gewisse Regeln gibt. Da ist es dann auch ganz schwierig für eine einzelne Sportlerin oder einen einzelnen Sportler, aus diesem System auszubrechen und z.B. zu sagen „Mir ist das jetzt nicht angenehm, gemeinsam zu duschen“, weil da vielleicht schon gewisses Unbehagen dabei ist, wenn der Trainer dabei ist und einen die ganze Zeit anschaut. Es kommen viele Faktoren zusammen und auf diesen drei Ebenen spielt sich das ab.

Im Sport ist das ganz extrem. Der Trainer lernt einen ja in Extremsituationen kennen, wo man mitunter an die körperlichen Belastungsgrenzen geht und kennt das Kind da oft sogar besser als die eigenen Eltern. Das liefert einen natürlich emotional total aus.

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