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Valerie Kattenfeld mit Jugendlichen aus Vietnam

Valerie Kattenfeld

Weltreiseblog

Hinter verschlossenen Türen

In Vietnam werden Jugendliche von ihren Eltern besonders unter Druck gesetzt. Sie wagen nicht, über ihre Träume zu sprechen.

Von Valerie Kattenfeld

Am Bahnhof von Haiphong in Vietnam angekommen, holt mich mein lokaler Kontakt vom Haiphong Youth Theater ab. Becca ist eine Kanadierin mit roten Locken und strahlenden Augen. Binnen eines Tages sind wir Busenfreundinnen. Sie assistiert in meinen Workshops, kocht für mich bei sich zu Hause und nimmt mich mit zu verklemmten Poolpartys, die wir ordentlich aufmischen.

Becca hat einen riesigen internationalen Freundeskreis, von dem alle in Haiphong als Englisch-Nachhilfelehrer arbeiten. Es ist ein sehr gut bezahlter Job, mit dem sich schnell Geld sparen lässt, denn die Lebenskosten im Vietnam sind niedrig. Abends trinken Becca und ich das supergünstige Bia Hoi Bier auf der Straße.

Valerie Kattenfeld mit Jugendlichen aus Vietnam

Valerie Kattenfeld

Was hier besprochen wird, bleibt unter uns

Während ich in den Nächten Beccas internationalen Freundeskreis anzapfe, widme ich die Tage der vietnamesischen Jugend. Fünf Menschen zwischen dreizehn und neunundzwanzig Jahren haben sich für meinen Schauspiel- und Storytelling Workshop angemeldet. Meine Residency am Haiphong Youth Theater war eines der ersten Dinge, die ich für meine Weltreise damals in Wien organisiert hatte. Lange Skype-Gespräche mit dem Gründer Darius Gervinskas, Einreichungen beim Kulturministerium und der Botschaft. Mit Erfolg: es werden sogar meine Hotelkosten in Haiphong abgedeckt. Und so hause ich in dieser Woche ausnahmsweise in einem Zimmer mit Badewanne und Kühlschrank, was ich mir sonst niemals leisten würde. (Die Hostel/Hotelbudget-Obergrenze liegt auf meiner Reise bei zehn Euro pro Nacht.)

Die Workshops finden im oberen Bereich des Kaffeine Cafe statt. Wie gewöhnlich stelle ich der Gruppe am ersten Tag meine Grundsätze vor:

Keine Handys. Wenn jemand spricht, hören wir aufmerksam zu.
Wir bewerten einander nicht.
Dieser Workshop ist eine Einladung, um persönliche Geschichten miteinander zu teilen.
Authentizität als Basis für die künstlerische Arbeit.
Um offen sein zu können, müssen wir einander vertrauen können. Also bleibt alles, was in diesem Raum ausgesprochen wird, unter uns. Kein Tratsch, kein Auslachen, kein mit dem Finger zeigen.

Valerie Kattenfeld mit Jugendlichen aus Vietnam

Valerie Kattenfeld

Alle sprechen offen

Was dann, innerhalb der ersten dreißig, vierzig Minuten, passiert, verblüfft mich völlig. Ich weiß, dass ich um Offenheit gebeten hatte, aber dass alle vom ersten Moment an dermaßen ehrlich sprechen würden, hätte ich nicht erwartet. Es ist fast so, als hätten die Kids lange auf diese Chance gewartet, als hätte sie nie jemand gefragt, was so die Dinge in ihrem Leben sind, mit denen sie zu kämpfen haben. Unzensiert offenbaren sie ihre Unsicherheiten, ihre Verletztlichkeit, ihre ganz persönlichen Probleme. Sie sprechen aus der Seele und berühren damit meine. Unvermittelt, tief.

Valerie Kattenfeld mit Jugendlichen aus Vietnam

Valerie Kattenfeld

Sehr bald einigen wir uns auf ein gemeinsames Thema für einen Film: die Schwierigkeit, sein wahres Selbst zu zeigen, oder besser: zu leben. Fast jeder der Teilnehmer fühlt sich von der Elterngeneration unter Druck gesetzt. Die Erwartungen der Eltern sind nicht nur enorm, sondern ebenso präzise: da werden Karrieren in Wiegen gelegt und Berufswege vorkonstruiert. Was die Kids selbst wollen, zählt dabei kaum. Viele wagen es nicht einmal, eigene Träume auszusprechen. Gute Noten in der Schule sind alles, was zählt.

Was ich am ersten Workshoptag höre, passt zu den Geschichten, die ich von Becca kenne. Nachhilfelehrer sitzen mit den Schützlingen oft bis zehn, elf Uhr Abends im Kinderzimmer und deklinieren Verben durch.

Valerie Kattenfeld mit Jugendlichen aus Vietnam

Valerie Kattenfeld

Buben sind mehr wert als Mädchen

Auch Geschlechterrollen sind Thema. Ein Teilnehmer berichtet, dass die Enkelkinder des Sohnes mehr „wert sind“ als die der Tochter und er deswegen regelmäßig gepiesackt wird.

Ein anderer Bub, Nghĩa, spielt gern mit Puppen. Weil das aber niemand versteht und er komisch angeschaut wird, ist der einzige Ort, an dem er dies tun kann, sein Zimmer. Wenn man der Norm nicht entspricht und nicht riskieren möchte, von anderen ausgelacht zu werden, scheint soziale Exklusion eine Lösung zu sein. Aus diesem Grund nennen wir unser Projekt „Hinter verschlossenen Türen“. Das ist unser Aussage über die Diskrepanz, die für die Bewältigung des Alltags erforderlich ist.

Wer bin ich in der Welt draußen und wie fühle ich mich innerlich, in meinen eigenen vier Wänden?

Unser Ziel ist es, mit dem Film anderen Jugendlichen zu sagen: Hey, ihr seid nicht die einzigen. Wir alle verstecken etwas von uns. Aber jetzt wird es Zeit, damit raus zu gehen. Den Mund aufzumachen. Sich zu zeigen, wie man ist. Stolz und selbstverständlich.

Jetzt wird gedreht

Nach einer Woche intensivem Training in Sachen Schauspiel, Status, Stimme und vielen vollgeschriebenen Zetteln und Plakaten ist unser Drehbuch fertig und die Rollen sind verteilt. Ich bin ganz schön stolz auf meine junge Crew, denn sie haben in den wenigen Tagen mächtige Fortschritte gemacht. Alle haben Talent und bringen sich engagierter ein als so mancher Profi. Ich spüre, dass wir etwas kreiert haben, mit dem sich jede und jeder identifiziert.

Mir selbst wurde durch die Arbeit vor Augen geführt, dass ich anderen ausreichend Sicherheit und Empathie geben kann, um sich zu öffnen. Früher ging es mir hauptsächlich darum, mich selbst auszudrücken. Aber das stellt mich nicht mehr zufrieden. Zu beobachten, wie andere an Stärke gewinnen und ihr Leben aus einer neuen Perspektive betrachten, ist eine bessere Belohnung, als es Applaus oder tolle Kritiken jemals sein könnten. Und es ist nicht das erste Mal, dass ich einen solchen Prozess in Gang setzen konnte.

Valerie Kattenfeld mit Jugendlichen aus Vietnam

Valerie Kattenfeld

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