FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Filmstills aus "The Darkest Hour"

Universal

Robert Rotifer

Mit Winston in der Underground

Gary Oldman soll als Churchill „die Nation galvanisieren“. Gedanken zu „Darkest Hour“ als filmische Darstellung zweier der finstersten Jahre der britischen Geschichte: 1940 und 2018.

Von Robert Rotifer

„Was ist, haben sie noch nie einen Premierminister in der Underground gesehen?“ fragt Gary Oldman, erstaunlich überzeugend verwandelt in die massige Gestalt des Winston Churchill, in Richtung der Passagier_innen in einem Waggon der District Line.

Es ist Ende Mai 1940, Oldman/Churchill ist gerade auf dem Weg zu einer seiner Brandreden im Parlament spontan aus seiner Staatskarosse gesprungen und hinab gestiegen in die düsteren Eingeweide des Londoner U-Bahn-Systems, die er als geborener Aristokrat noch nie zuvor gesehen oder gerochen hat. Bis Westminster ist es nur eine Station, aber in diesem seltsam statischen, vom ratternden Lärm der Underground magisch isolierten Waggon findet der Premier reichlich Zeit, das Volk um seinen Rat zu fragen: Wollen sie sich mit den Nazis arrangieren, oder wollen sie weiterkämpfen?

Durchhalten wie einst Sir Winston

„Humbug, völliger Humbug“, schnaubte ein Londoner Freund, den ich am Sonntag traf, nachdem ich mir im Kino „Darkest Hour“ angesehen hatte: „Wenn Churchill so etwas gemacht hätte, würden wir davon wissen.“

Jener Freund hat zufälligerweise gerade ein Buch über sämtliche britischen Premierminister_innen geschrieben, das aus Kurzbiographien bzw. Bewertungen von deren jeweiligen Lebenswerken besteht. Der dicke Band ist gerade im Druck, die Recherche meinem Freund also noch lebhaft im Kopf. In anderen Worten, ich glaube ihm.

Filmstills aus "The Darkest Hour"

Universal

Natürlich ist von einem Spielfilm nichts faktisch Hieb- und Stichfestes zu erwarten oder zu verlangen. Und doch verführt ein historisches Drama rund um eine reale Person zu dem trügerischen Rückschluss, was wir sehen, werde im Großen und Ganzen schon wahr sein, da „die“ es nie wagen würden, „sowas“ zu erfinden. Tun sie aber andauernd und selten ohne einen Grund, der nicht auch einiges über unsere eigene Zeit zu sagen hätte. Im speziellen britischen Kontext hat der derzeitige Boom nachgestellter (Kriegs-)Geschichte in Kino und Fernsehen vor allem mit einem Brexit-bedingten Bedürfnis nach einem nationalen Durchhalte-Narrativ zu tun. Wieso sähen wir sonst den zweiten Churchill-Film in einem Jahr?

Gary Oldmans Churchill wird die Nation galvanisieren“, betitelt der Daily Telegraph seine Rezension.

Filmstills aus "The Darkest Hour"

Universal

Es braucht wohl Jahre, so einen Film vorzubereiten, der direkte Zusammenhang ist also schwer herstellbar. Aber auch die Stimmung, die zum Brexit-Votum führte, entwickelte sich mit einiger Vorlaufzeit. Und wie jedes gelungene Produkt der Popkultur erscheint „Darkest Hour“ nun in scheinbar prophetischer, perfekter Synchronität zur politischen Gegenwart eines diplomatisch isolierten Großbritannien, das sich Mut zuredet, während es dem potenziellen Desaster eines harten Brexit entgegen stürmt.

Stratege in der Badewanne

Konzentrierte der Film „Churchill“ mit Brian Cox in der Titelrolle sich 2017 auf die Vorbereitung der Landung der Alliierten in der Normandie, so beschränkt sich der Neuseeländer Anthony McCarten („The Theory of Everything“) in „Darkest Hour“ auf jene scheinbar aussichtslose, „finsterste Stunde“ im Frühling ’40 nach Churchills Amtsantritt und dem Scheitern der Friedenspolitik seines Vorgängers Neville Chamberlain (verkörpert von Ronald Pickup).

Holland, Belgien und weite Teile Frankreichs waren in die Hände der Deutschen gefallen, 300.000 Soldaten der British Expeditionary Force saßen vor Dunkerque fest, und ein auf sich allein gestelltes, selbst von seinen amerikanischen Verbündeten hängen gelassenes Großbritannien harrte einer so gut wie unvermeidlich bevorstehenden deutschen Invasion. Siehe im Vergleich dazu den letztjährigen Blockbuster „Dunkirk“ oder die großteils auf denselben Schlachtfeldern spielende, zehn Jahre alte Verfilmung des großen Ian McEwan-Romans „Atonement“. Ironischerweise teilt sich letzterer Film mit „Darkest Hour“ den Regisseur (Joe Wright) und liefert gleichzeitig ein gutes Kontrastbeispiel dafür, um wie viel subtiler und in seiner Essenz wahrhaftiger sich ein historischer Stoff anhand fiktiver Hauptpersonen darstellen lässt.

Filmstills aus "The Darkest Hour"

Universal

Wie immer ein_e Schauspieler_in so eine Rolle angeht, sie oder er wird Komplize der industriellen Ikonographie, das war bei Meryl Streep (Thatcher) so, und ist bei Gary Oldman nicht anders. Joe Wright gönnt Oldman/Churchill ein paar entwaffnend und herzerwärmend persönliche Auftritte, die ihm unsere Herzen zufliegen lassen. Wenn er etwa der Sekretärin aus dem Bad diktiert, sie mit den Worten „I am coming out in a state of nature“ vor seiner Nacktheit warnt und im nächsten Moment seine fetten nackten weißen Beine über den Teppich laufen. Oder wenn er auf die Frage des Königs, wie er schon zu Mittag Alkohol trinken könne, mit „Übung!“ antwortet.

Aber zurück zu Churchills Abstieg in die Underground: Dem kommt nämlich noch eine weitere, für meinen Freund, den Premierminister-Biographen, noch viel unvorstellbarere Szene zuvor. In der Finsternis eines verdunkelten Zimmers in Churchills verwitterndem Familiensitz Chartwell geht eine einsame Glühbirne an. Wir sehen Oldman/Churchill auf dem Diwan, in Sakko, Hemd, Hose und Socken, hinter ihm blättert die Farbe von der Wand ab, wir hören die Stimme seiner Frau Clemmie (Kristin Scott Thomas), die ihm erklärt, dass der König auf Besuch gekommen sei. „Welcher König?“, fragt Oldman/Churchill.

„The will of the people“

Und schon steht George VI. (Ben Mendelsohn) persönlich im perfekten blauen Zweireiher mitten im Zimmer. Er erklärt dem von Depressionen geplagten Premier nicht nur, dass er ihn ab nun in seiner kompromisslosen Linie unterstützen wird, er gibt ihm auch einen Rat: auf „das Volk“ zu hören. Das also ist es, was Oldman/Churchill in der U-Bahn sucht: „the people“.

Niemand kann in Großbritannien heute diese Worte hören, ohne sie mit der Losung von Brexit als ultimative Manifestation des „will of the people“ zu identifizieren. Auf den Seiten der Boulevard-Presse steht dieser Volkswille gegen den unpatriotischen Pragmatismus jener politischen Elite, die mit der EU Kompromisse aushandeln und so die Emanzipation des britischen Volkes von der kontinentalen Fremdherrschaft verhindern will. Das Äquivalent dazu stellt in „Darkest Hour“ vor allem Lord Halifax, enger Vertrauter von Chamberlain und persönlicher Freund des Königs dar, der mit Mussolini Friedensverhandlungen führen und dabei Britanniens Souveränität opfern will.

Zwar sieht man Oldman/Churchill zweimal die Rettung Europas (vor den Nazis) beschwören, die unmissverständliche Parallele zu den Brexit-Verhandlungen liefert aber ein Blitzbesuch in Frankreich, bei dem Oldman/Churchill abermals verkündet, dass er den deutschen Invasoren trotzen werde. Die Franzosen, die sich bereits geschlagen geben, halten das – analog zu den aktuellen Worten von EU-Chef-Verhandler Michél Barnier – für eine wahnhafte Selbsttäuschung. „He’s English“, zischen sie einander zu, „delusional“.

Die Realität sah auch hier ziemlich anders aus, aber das Stereotyp präpotenter Festlandbewohner, die von den wackeren Briten eines Besseren belehrt werden müssen, ist in Brexit-Zeiten wohl unwiderstehlich.

Eine andere Zeile ließ einen Familienvater links neben mir laut in sein Popcorn prusten. Großbritannien sei eine Seefahrer-Nation, erklärte da Oldman/Churchill, während der Deutsche „kein Gewässer erkennt, das größer als ein See wäre“. Anzunehmen, dass der echte Churchill von den Nord- und Ostseeküsten bzw. deutschen U-Booten gehört und so einen Blödsinn nie verzapft hätte.

Andererseits passt die herablassende Ignoranz gegenüber der Welt jenseits des Kanals ganz gut zur in sich selbst versunkenen Stimmung sowohl des Films als auch der britischen Brexit-Debatte: Die großen Konflikte spielen sich allesamt intern ab, in schwach ausgeleuchteten, staubigen Gängen und spartanischen Bunkern, ja, selbst die Fenster des Buckingham Palace sind verdunkelt. Im Halblicht funkeln irre Blicke, Dialoge werden ins Dunkle gefaucht, gelegentlich fühlt sich der Zweite Weltkrieg an wie ein Batman-Film ohne Action, fliegende Autos oder Feuerbälle.

Filmstills aus "The Darkest Hour"

Universal

Einzig die brennenden Bombenkrater von Nordfrankreich glühen durch die Düsternis, als Oldman/Churchill die schwere, einsame Entscheidung trifft, 4.000 Soldaten in Calais für die Rettung von 300.000 in Dunkerque zu opfern. Bezeichnend, dass dabei nicht nur die Teilnahme belgischer und französischer Truppen unerwähnt bleibt, sondern auch die für die Evakuierung von Dunkerque essentielle, viele französische Opfer kostende Verteidigung von Lille.

Mit den Großtaten der nicht-britischen Freunde hält sich das Drehbuch allerdings auch um nichts weniger auf als mit den Verbrechen der deutschen Feinde. Historisch Unbeleckte erfahren nicht wirklich, warum der unsichtbar bleibende Hitler, dessen bellende Stimme nur als ambientes Radiogeräusch im Hintergrund vorkommt, eigentlich von Oldman/Churchill als „monströser Tyrann“ bezeichnet wird. Das moralische Motiv des britischen Widerstands gegen den Vormarsch der Nazis reduziert sich auf die bedrohliche Vorstellung, dass die Schwarzhemden des britischen Faschistenführers Oswald Mosley einen Deutschland untergeordneten „Sklavenstaat“ regieren könnten (vgl. auch hier wieder das populäre britische Bild von der EU als autoritärer Superstaat). Eine solche Demütigung des Jahrhunderte währenden britischen Empire darf nicht geduldet werden.

Geborener Antifaschist war Churchill, der auch im Spanischen Bürgerkrieg den mit Hitler verbündeten Putschisten Franco gegen die Republik unterstützt hatte, tatsächlich keiner. Und McCarten/Wright legen ihm dies auch nicht in den Mund. Einzig die Stimme einer Passagierin in der Underground nennt „die Faschisten“ als Feinde beim Namen, ehe das versammelte proletarische U-Bahn-Volk in lautstarke „Never! Never! Never!“-Chöre ausbricht. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Szene übrigens auch ein Mann offenbar karibischer Herkunft namens „Marcus Peters“, den Oldman/Churchill anerkennend an die Schulter fasst. Das wiederum grenzt an Geschichtsfälschung, nicht nur, weil 1940 noch kaum dunkelhäutige Gesichter in der Londoner Underground anzutreffen waren, sondern auch, weil der echte Churchill fest an die Hierarchie der Rassen glaubte und noch 1955 in einer konservativen Kabinettssitzung „Keep Britain White“ als „guten Wahlslogan“ vorschlug.

Ein Film, der sich spezifisch mit Churchills weltrettenden Verdiensten im Kampf gegen Hitler-Deutschland befasst, muss wohl nicht unbedingt die vielen schwarzen Flecken in seiner politischen und militärischen Biographie offenlegen. Immerhin finden zumindest seine Misserfolge des Ersten Weltkriegs (siehe Gallipoli) Erwähnung, so wie auch seine undankbare Arroganz gegenüber seinem späteren Nachfolger Clement Attlee, dessen Labour Party ihn – als Bedingung für die Fortführung der Koalition der nationalen Einheit bzw. gegen den Widerstand aus konservativen Reihen – als Premier durchgesetzt hatte.

Und immerhin setzt setzen Oldman (bzw. Wright) dem alten Klischee von Churchill als depressiver, aber wild entschlossener Schreibtischheld Momente der tatternden Hilf- und Ratlosigkeit entgegen. Gelegentlich wirkt Oldman/Churchill dann, als zerbreche er selbst unter dem Gewicht seiner Entscheidungen, die zwangsläufig Tausende in den Tod schicken. Er ist ein kleiner Mann der großen Worte, Gesten und Zigarren, aber eben ein kleiner, sehr ungesunder Mann.

Selbstlose Frauen ohne Selbst

Vielleicht ein guter Moment, sich einmal das Frauenbild des Films bzw. die Abbildung jener zwei Frauen anzusehen, die darin nennenswerte Rollen spielen dürfen: Zunächst Scott Thomas/Clemmie Churchill als Klischee der leidgeprüften, treuen Gefährtin, die ihren Mann einmal so richtig anbrüllen darf („Wir sind pleite!“ sagt sie, „Ich wage keine Schecks mehr auszustellen“), aber sonst nicht viel mehr tut, als ihm mit von den Entbehrungen einer langen Ehe abgeklärtem Blick die Stange zu halten.

Filmstills aus "The Darkest Hour"

Universal

Und dann Churchills Sekretärin Elizabeth Layton, gespielt von Lily James in der klassischen Rolle der elegant, aber bescheiden gutaussehenden, endlos pflichtbewussten englischen Vierzigerjahre-Frau, wie sie durch alle in dieser Periode spielenden Filme geistern. Diese Frauen – vergleiche auch die beinahe identische Sekretärin im „Churchill“-Film – sind in ihrem wohlerzogenen Gehorsam gelegentlich schusselige Heilige, ebenso selbstlos wie ohne Selbst, sie existieren nur als Muster der ein klein wenig kecken Verlässlichkeit und als unberührte sinnliche Wesen mit stets roten Lippen, perfektem Haar, überknielangen, aber knapp am Hintern sitzenden Röcken und anständig mittelhohen, klobigen Stöckelschuhen.

James/Layton sitzt stets dienstbeflissen hinter ihrer Schreibmaschine, sie versucht dem Murmeln ihres genialen Chefs zu folgen, nur ja keine Fehler zu machen. Sie hat das Bild eines jungen Mannes bei sich auf dem Schreibtisch. Nicht, wie Oldman/Churchill glaubt, ihr Beau, sondern ihr Bruder, gefallen vor Dunkerque. Aber sie trägt es mit Fassung. Und als Oldman/Churchill sie in den Raum mit den Landkarten mitnimmt, erinnert sie ihn daran, dass sie dort als Frau nicht zugelassen ist.

„Jetzt sind sie es“, sagt Oldman/Churchill, denn er ist großmütig und, so sollen wir denken, von wegen 2018, beinahe quasi schon ein Feminist. Er erklärt ihr die existenzielle Klemme, in der das Land sich befindet, und sie vertraut seiner Weisheit. Am Ende sehen wir sie mitleben und -beben, als er seine große Rede hält, die sie für ihn getippt hat. Im Unterhaus sitzt sie ganz oben in der Galerie, neben ihr noch so eine illuminiert lächelnde junge Frau mit kirschroten Lippen, und blickt bewundernd herab auf Oldman/Churchill: „We shall fight on the beaches“, sagt der, „We shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills, we shall never surrender.“

Und dazu setzt die übliche Historischer-Moment-Musik ein, so wie Coldplay ohne Schlagzeug, Bass, E-Gitarre und ohne Stimme, nur die aufwühlenden Streicher. Und den Menschen im Kino wird auf einmal trotz aller Düsternis doch ganz warm ums Herz, weil sie wissen, wie es ausgehen wird. Gut nämlich.

Und irgendwann in ferner Zukunft werden wir auf diese Zeit zurückblicken, die Ära des Brexit-Films, die künstlerisch wertvolle Propaganda aus der Epoche des nationalen Nervenzusammenbruchs im Großbritannien der späten Zehnerjahre, und wir werden sagen: „Ewig schade um den geschichtlichen Zusammenhang, weil rein so als Film gesehen ist das eigentlich gar nicht schlecht.“

mehr Film:

Aktuell: