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Ein leeres Fahrradschloss

CC0 gemeinfrei via Pixabay

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Der Diebstahl

Was kann ein Dieb wohl mit meinem Schrottfahrrad anfangen? Oder mit der halben Vergangenheit von Mustafa?

Von Todor Ovtcharov

Kennt ihr das Gefühl, wenn man gerade dort steht, wo mal euer Fahrrad war, aber man nur mehr die durchgeschnittene Kette findet? Man fühlt etwas zwischen Selbstmitleid und Ärger. Man fühlt sich wie ein Teil vom Diebstahl.

Nur vor einer Stunde stand dort noch ihr rotes Fahrrad, mit einem schönen Korb mit Blumen, und jetzt ist es nicht mehr da. Viele Leute in so einer Lage können es kaum glauben und fragen sich, ob der Fehler bei ihnen liege. Warum habe ich gerade hier mein Fahrrad angebunden? Bin ich heute überhaupt mit dem Rad gefahren? Und die durchschnittene Kette liegt zu ihren Füßen. Während man sie aufhebt, realisiert man langsam die Wahrheit. Das Rad ist nicht mehr und in seinem Korb liegen nicht mehr ihre vier Flaschen mit Bio Apfelsaft, sondern eine riesige Schere zum Schneiden von Stahlketten – die gleiche, die für ihre Kette verwendet wurde.

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Ich kenne das Gefühl ganz gut – mir wurden vier Fahrräder gestohlen: drei von der Straße und eins aus dem Fahrradraum des Hauses, wo ich damals gewohnt habe. Alle meine Fahrräder waren alt und verrostet. Ich habe immer geglaubt, dass das Letzte, was man mir stehlen könnte, diese Fahrräder wären. Aber – Schicksal...

Über das Schicksal weint jetzt mein Freund Mustafa. Er hat mal den hässlichsten Rucksack der Welt besessen. Er beschreibt ihn mit so vielen Details, dass ich ihn mir sofort vorstelle: grau, mit einer Tasche vorne, auf der einen Seite hat er einen Fleck, da mein Freund einmal seine Thermoskanne mit Kaffee im Rucksack offen gelassen hatte.

Genau dieser Rucksack wurde Mustafa im Zug vom Flughafen in die Stadt gestohlen. Er erinnert sich ganz genau, wie er sich auf seinen Platz gesetzt hatte und seinen Rucksack hinter seinem Rücken verstaute. Als er aussteigen wollte, war der Rucksack weg. Alle andere Fahrgäste starrten in ihre Smartphones oder lasen die Gratis U-Bahnzeitung. „Sind wir denn so böse, wir Österreicher?“, sagt Mustafa im schönsten Wiener Dialekt.

Eigentlich weint Mustafa nicht so viel um den Rucksack mit dem Kaffeefleck. Doch drinnen war ein USB Stick mit Hunderten von Fotos. Mustafa erzählt mir, wie neulich sein Computer kaputt wurde und er tapfer gekämpft hatte, um seine Daten nicht zu verlieren. Am meisten gekämpft habe er, um die Fotos seiner Kinder zu retten. Er habe die kleinen Gülser und Mildan seit ihrer Geburt jeden Tag fotografiert. Das war die Geschichte der letzten zehn Jahre. Er hat die Fotos gerertet und bald danach ist sein Computer gestorben. Jetzt war der USB Stick im Rucksack.

„Kannst du es dir vorstellen? Der Dieb hat den Rucksack aufgemacht, hat gesehen, dass drinnen nichts Wertvolles liegt und hat ihn in den ersten Mistkübel geworfen. Jetzt liegen meine Gülser und Mildan im Mistkübel und es regnet über sie!“ Ich schlage ihm vor, die Mistkübel in den Bahnstationen mit ihm gemeinsam durchzuchecken. Erstmal scheint er kurzfristig begeistert zu sein, dann versteht er, wie sinnlos mein Vorschlag ist. „Mein Vergangenheit ist weg!“, weint Mustafa im Wiener Dialekt. „Mein halbes Leben wurde gestohlen!“

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