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Cover Die Gabe

Verlagsgruppe Random House GmbH

Frauen unter Strom

Was wäre, wenn Frauen durch eine neue Superkraft zum starken Geschlecht würden? Das fragt sich die britischen Autorin Naomi Alderman in ihrem neuen Buch.

Von Anna Masoner

Portrait Alderman

Naomi Alderman

Naomi Alderman ist in London aufgewachsen und studierte in Oxford. Sie stellt bei BBC Radio 4 „Science Stories“ vor und ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Bath Spa University.

Ob in London, Lagos oder einer Kleinstadt in den USA: von einen Tag auf den anderen entdecken Teenagermädchen eine geheimnisvolle Kraft. Über ihre Hände können sie mithilfe eines Organs in der Nähe ihres Schlüsselbeins Stromstöße aussenden, die stark genug sind um andere Menschen zu verletzen, sogar zu töten. Erzählt wird diese Geschichte über vier Protagonisten, drei Mädchen und einen Mann. Da ist zum Beispiel die 14-jährige Roxy, die Tochter eines Londoner Gangsterbosses, die von einer verfeindeten Gang überfallen wird:

„Etwas knistert und knackt, es riecht ein wenig nach Gewitter und verbranntem Haar. Der kleinere Mann liegt plötzlich auf dem Boden und wimmert, ein hohes, summendes Geräusch. Seine Hand ballt sich zur Faust und öffnet sich wieder. Eine lange rote Narbe zieht sich vom Handgelenk den Arm hinauf. Sie ist sogar unter der dichten blonden Behaarung gut zu sehen: scharlachrot schlängelt sie sich wie Farnkraut nach oben, komplett mit Blättern, Ranken, Knospen und Zweigen.“

Im Netz tauchen Videos von den Mädchen mit der neuen Superkraft auf und verbreiten Angst und Schrecken. Experten und Verschwörungstheorethiker suchen nach Erklärungen für das Unerklärbare. Buben haben Angst vor Mädchen, nun sind sie es, die sich mitten in der Nacht in einer schummrigen Gasse unwohl fühlen.

"Eltern befehlen ihren Söhnen bereits nicht mehr allein aus dem Haus zu gehen. Jungen wurden mit speziellen Bussen in nur für sie bestimmte Schulen transportiert.“

Die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen werden vollkommen auf den Kopf gestellt. Junge Frauen befreien sich, in Moldawien eingesperrte und versklavte Frauen schließen sich zu einer Miliz zusammen und reißen die Macht an sich. Auch in Saudi-Arabien gibt es eine blutige Revolution.

Männer, das schwache Geschlecht

Der einzige männliche Protagonist ist ein Endzwanziger aus Nigeria. Er ist Journalist und berichtet aus der ganzen Welt von den Entwicklungen - bis er von einer Frau abgelöst wird.

Gangstertochter Roxy übernimmt die Geschäfte ihres Vaters nachdem sie den Mord an ihrer Mutter gerächt hat. Sie zieht in die USA und schließt sich Allie an, die ihren Pflegevater und Peiniger getötet hat. Als „Mother Eve“ wird Allie von anderen Mädchen und Frauen kulthaft verehrt und predigt zu ihren Anhängerinnen:

Cover die Gabe

Verlagsgruppe Random House GmbH

Naomi Alderman: Die Gabe. Übersetzt von Sabine Thiele. Heyne 2018

„Man hat euch gesagt, dass Männer über die Frauen herrschen wie Jesus über die Kirche. Doch ich sage euch, dass die Frau über den Mann herrscht wie Maria über ihren kleinen Sohn, nämlich mit Liebe und Zuneigung.“

Aber Frauen sind nicht die besseren Männer. Am Ende wird die Welt nicht friedlicher und gerechter, weil sie an der Macht sind. Wer Macht hat, nutzt sie aus, unterdrückt andere, lautet eine der Botschaften des Buches. Egal ob Mann oder Frau.

Buch der Stunde

In den USA und Großbritannien wird „The Power“, wie das Buch im Original heißt, in den Himmel gelobt. Zu Recht für die große Idee hinter dem Roman, zu Unrecht für die Umsetzung. Die Figuren und Dialoge bleiben schablonenhaft, manches Wendung einfach lächerlich. Etwa die Darstellungen von fiktiven historischen Relikten die zeigen sollen, dass die Gabe bei Frauen schon immer vorhanden war, aber in Vergessenheit geraten ist.

Angelegt ist die knapp 500 Seite starke Geschichte als Buch im Buch im Buch. Was wir lesen, ist ein Manuskript des Schriftstellers Neil Adam Arden (ein Anagramm zu Naomi Alderman) das er viele Jahre nach den dramatischen Machtumwälzungen an eine Gönnerin schickt. Er will darin ergründen, wie es dazu kam, dass die Rollen so verteilt sind wie sie nun mal sind. Spaß macht es, seine Briefe an seine Förderin Naomi zu lesen, die vorne und hinten angestellt sind. Seine Formulierungen sind unterwürfig und in Watte gepackt. Es wimmelt vor bitte, könnte und danke. Ob er darüber nachgedacht hat, unter einem weiblichen Pseudonym zu veröffentlichen, will Naomi am Ende wissen. Er wäre sicher erfolgreicher.

Trotz der erzählerischen Schwächen sollte man „Die Gabe“ gelesen haben. Die Idee der verkehrten Welt, des Rollentauschs, passt zu gut zu dem was seit #metoo in der Luft liegt und zur Forderung, dass sich jetzt endlich etwas ändern muss.

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