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L'animale Filmstill

NGF / La Banda

Unberechenbar und zärtlich

Unter den ersten der 81 Premieren auf der Diagonale 2018 sind „L’Animale“, „Die bauliche Maßnahme“ und ein neuer Kurzfilm von Kurdwin Ayub. Woop-woop!

Von Maria Motter

Eigentlich hätte „L’Animale“ einen Reiterhof als Schauplatz. Doch die Männer in den Filmförderstellen fanden das unrealistisch. Ein berechtigter Einwand. Also hat Katharina Mückstein umdisponiert, und die Schauspielerin Sophie Stockinger musste Motorradfahren lernen. Sonderlich begeistert hat sie das bis heute nicht.

Doch Katharina Mückstein hat das Drehbuch regelrecht für die Wienerin geschrieben, um nach vorangegangenen gemeinsamen Filmen noch einen machen zu können, bevor Stockinger zu studieren beginnen würde. Mückstein erzählt das gestern nach der Österreichpremiere ihres neuen Spielfilms, und Sophie Stockinger strahlt über das ganze Gesicht. „Die Figur der Mati ist von Katharina absichtlich sehr weit weg von mir geschrieben“, sagt sie.

L'Animale Filmstill

NGF / La Banda

L’Animale

Die Diagonale ist das zweite Festival, auf dem „L’Animale“ läuft, doch gilt Katharina Mücksteins neuer Film bereits als Publikumshit. Inklusive Anfragen etlicher weiterer Festivals.

Die Handlung von „L’Animale“ ist in der österreichischen Gegenwart in den Wochen vor Matis Matura angesetzt. Kathrin Resetarits als Mutter der Achtklasslerin Mati will deren Weiblichkeit fördern. Ihren „schönen Busen“ soll Mati herzeigen, die Haare offen tragen, einen anderen BH anziehen. Das Maturakleid, das die Mutter für ihr Kind auserwählt, ruft eine laute Publikumsreaktion hervor: „Naaaa!“ Mati blickt stumm auf ihre Aufmachung. Ihren Haarknoten wird noch eine andere Frau im Film lösen. Doch vorerst zieht Mati mit drei männlichen Freunden und ihrem Motorrad los. „L’Animale“ kommt ohne ein Smartphone aus.

L'Animale Filmstill

NGF / La Banda

L’Animale

„L’Animale“ bebt geradezu. Unberechenbare Momente tun sich auf, Herzen pochen heftig. Parallel läuft das Coming-of-age auch für die Eltern. Wie in einer Hommage an „Dirty Dancing“ wird der Vater eine Melone getragen haben und das perfekte, gute Leben Risse bekommen - genau wie das moderne Familienhaus. Dass der Bau erst halb fertiggestellt ist und ein Vogel gegen das Schlafzimmerfenster knallt, mag ein Omen sein. Oder auch nicht.

Kater Herbert entpuppt sich im Abspann als Katze Erika. Den Abspann laufen zu lassen und tatsächlich querzulesen ist auch eine Höflichkeit des Festivalpublikums. Bei „L’Animale“ hat man Bernhard Fleischmanns kraftvollen Score im Ohr und läuft ohnehin nicht gleich hinaus in die Nacht.

Das liegt auch an der durchgehenden Spannung, die Katharina Mückstein und ihre SchauspielerInnen aufbauen und die in einer Liedsequenz gipfelt, die zeigt, was Kino alles sein kann. Und macht zugleich deutlich, in wie wenigen Filmen insgesamt die fantastischen Möglichkeiten des Mediums voll ausgeschöpft werden. Wunderbar, dass Katharina Mückstein sich diese Interpretation des titelgebenden Lieds von Franko Battiato leistet. Unberechenbarkeit und Zärtlichkeit sind eine herausragende Kombination.

Die bauliche Maßnahme Filmstill

Geyerhalterfilm

Die bauliche Maßnahme

Von diesen beiden Eigenschaften hat auch der Dokumentarfilm „Die bauliche Maßnahme“ so einiges. Unaufgeregt widmet sich der fantastische Dokumentarfilmer und Kameramann Nikolaus Geyrhalter einem Aufreger-Thema: Ein Grenzzaun soll 2016 am Brenner errichtet werden, um unautorisierte Grenzübertritte zu verhindern.

„Die bauliche Maßnahme“ ist eine Ausnahme unter den bisherigen Werken Geyrhalters, denn diesmal hält Geyrhalter nicht nach historischen Ereignissen Nachschau, sondern ist mittendrinnen. Klar ist die Ausgangsposition die sogenannte Flüchtlingskrise. Doch Flüchtling wird man keinen zu sehen bekommen. Bekannte Bilder zu zeigen, das hätte ihn nicht interessiert. Auch die Situation eines Aufgriffs wäre doch vor allem nur eine emotional schwere Situation für den Menschen, was wolle man da sehen. Vielmehr überraschen einen die ÖsterreicherInnen, die zu Wort kommen. Die Protagonisten erzählen nicht nur, sie halten regelrechte Reden. Darunter sind beeindruckende Plädoyers für Menschlichkeit.

Die bauliche Maßnahme Filmstill

geyerhalterfilm

Die bauliche Maßnahme

Es liegt eine große Ruhe in „Die bauliche Maßnahme“. Wir begegnen einem posenden Aktivisten, Polizisten („Maschendrahtzaun, nicht Stacheldrahtzaun!“), Jägern, WirtInnen, Arbeitern, Senegalesen beim Bau des Brennerbasistunnels und treffen einen Bauern, der in Eigeninitiative das „Nischenprodukt“ Biogans anbietet und dafür auf Italien setzt. Denn einen „stressfreien Schlachthof“ gebe es in Tirol nicht. Die Politik spaziere am liebsten mit den Schützen auf, sonst passiere nicht viel. „Leute, die sich selbst als Macher bezeichnen, als die Zukunftsgeneration, die ewiggestrige“. Lange schon geht es nicht mehr allein um einen Grenzzaun.

Das Klischee des verschlossenen, in sich gekehrten Bergbewohners wird als erstes gebrochen. Gleich in der dritten Kameraeinstellung ist viel Platz, in einem Café sitzen vereinzelt Personen an Tischen. Die Berge, die Täler, Kühe und eine Katze, die ein Soldatenbein hinaufklettert - was zeichnet einen Tiroler aus, will Nikolaus Geyrhalter von einer Tirolerin wissen. Ihre Antwort: „Das schöne Tal“. Das sei aber kein Charakteristikum. „Wer sein Land liebt, ist Tiroler“.

Als dieselbe Frau einen großen Kochtopf mit Couscous für die gebürtigen Senegalesen und nunmehrigen italienischen Bohrarbeiter anpackt, ist die Sprachlosigkeit kurz zurück. „Irgendwie mag ich sie alle“, sagt Nikolaus Geyrhalter nach dem Screening über die Menschen in seinem Film. Und dass uns ein Schwarz-Weiß-Denken auch nicht weiterbringe.

Anomalie

Um 18.30 Uhr sagt Paula, sie hätte jetzt gern ein Bier. Gleich wird im UCI Richard Wilhelmers erster Dokumentarfilm „Anomalie“ zum ersten Mal gezeigt werden. Das Team vom Street Cinema Graz schaut sich den auch an, heute - Donnerstagabend - laden sie wieder zu Kino im öffentlichen Raum

Der gebürtige Judenburger und Wahl-Berliner Richard Wilhelmer tritt an, zu ergründen, was „normal“ bedeutet, und macht sich auf zu ExpertInnen wie der österreichischen Psychiaterin Adelheid Kastner und dem deutschen Gehirnforschers und Neurobiologen Gerhard Roth. Bis ein Forscher am MIT Media Lab Künstliche Intelligenz und Menschen vergleichen wird - „Wir sind Systeme, an deren Grenzen Muster auftauchen“ - wird eine Vielzahl an komplexen Themen kurz mit Basisinformationen und Zahlen angerissen, doch nicht weiter verfolgt.

Anomalie Filmstill

Richard Wilhelmer

Anomalie

Immer wieder schlägt das Meer Wellen, das essayistische Konstrukt hat als Herzstück die Annäherung an Fritz Joachim Ruderl, der „gegen Terror“, „gegen Verrückte“ - also gegen Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie - kämpft. Adelheid Kastner bekommt eine Videoaufnahme mit ihm vorgespielt und stellt unmittelbar eine Diagnose. „Wir glauben nicht an Diagnosen“, sagt ein nicht mehr ganz junger Mann an einer anderen Stelle. Wer einmal näher mit psychisch Kranken oder Menschen mit Persönlichkeitsstörungen zu tun hatte, wird sich mit der weichgezeichneten Darstellung in Wilhelmers Doku schwer tun. Was im Film als eigenbrötlerisch interpretiert werden könnte, hat sich beim Drehen als schwieriges Verhalten manifestiert. Ruderl, der Warnweste und Strumpfhosen mit Mustern trug, sprach unentwegt. Die schöne Tradition der Publikumsgespräche auf der Diagonale ermöglicht Einblicke in Produktionsprozesse.

Boomerang Filmstill

Kurdwin Ayub

Boomerang

Im Nebensaal rockt indes Kurdwin Ayub ein Publikumsgespräch mit meiner FM4-Kollegin Alexandra Augustin. Mit ihrer Langdoku „Paradies, Paradies!“ war die Wiener Filmemacherin zuletzt bei einer Diagonale, jetzt hat sie wieder einen Kurzfilm fertiggestellt. „Boomerang“ kann mit den inzwischen hohen Erwartungen sehr gut mithalten. Ayubs Filme sind bekannt für ihre Lustigkeit, in der stets aber durchaus ernste Geschichten transportiert werden. Wieder war Kurdwin Ayub inspiriert von einer wahren Begebenheit aus ihrer Familie. „Lass’ dir endlich eigene Geschichten einfallen“, zitiert sie ihren Papa. Angelika Niedetzky feiert als Mutter und frisch getrennte Frau eine Party, im Auto vor dem Haus sitzt der Verlassene.

Schneemann Filmstill

Leni Gruber

Schneemann

Das Kurzfilmprogramm 3 ist wie das Kurzfilmprogramm 1 ein Hit. Da ist auch „Schneemann“ von Leni Gruber. Darin entspinnt sich aus der Fadesse einer Studentin eine feine, lustige Geschichte. Auch hier könnte man sich „4 Haxn ausfreuen“, wie das Intendantenduo seine Begeisterung über „L’Animale“ kundtat.

Schneemann Filmstill

Leni Gruber

Schneemann

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