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Schiff Empire Windrush

By Royal Navy official photographer [Public domain], via Wikimedia Commons

Robert Rotifer

Tag der Schande: Großbritanniens Verrat an den Windrush-Kindern

Gerade zu dem Zeitpunkt, wo Großbritannien sich post-Brexit als „global Britain“ neu positionieren will, terrorisiert sein Innenministerium die afrokaribische Community des Landes mit Deportationsbescheiden.

Von Robert Rotifer

Jede Gesellschaft braucht Selbstbetrug, um sich selbst zu ertragen, das ist klar. Sonst könnten wir als Europäer_innen nicht erhobenen Hauptes durch die Straßen unseres über Jahrhunderte auf Kosten des Rests der Welt ergaunerten Wohlstands gehen und somit nicht einmal Eis essen.
Aber zwischendurch tut ein Eingeständnis der bitteren Wahrheit auch ganz gut, so wie dieser Tage im (tiefen) Fall von Großbritannien und seinem Selbstbild als weltoffene Nation, im Brexit-Zeitalter „global Britain“ genannt.

Man sieht sich gern als liebenswertes Ex-Weltreich, das im post-imperialen Commonwealth freundschaftliche Bande zu den Völkern seines alten Empire pflegt, mit der Queen als Maskottchen und gütiges Oberhaupt, ein bisschen kolonial, aber nur so zwecks der Zeremonie. Als bunte, moderne Nation, die sich eine reformierte Version von „Britishness“ als scheinbar progressive nationale Identität mit Hautfarben aller Schattierungen zurechtgebastelt hat (welche praktischerweise EU-Migrant_innen ausschließt, man kann also gleichzeitig xenophob und vermeintlich antirassistisch pro-Britisch sein...). Ein paar diversity targets da oder dort, und das britische Idyll wäre perfekt gewesen. Und dann passiert sowas Dummes wie der Windrush-Skandal.

Vielleicht war es ja die innere Überzeugung, dass, spätestens seit Großbritannien sich vor knapp zwanzig Jahren infolge des Mordes an Stephen Lawrence so gründlich vom institutionellen Rassismus losgesagt hatte, der dunkle Fleck auf dem nationalen Gewissen für immer beseitigt sei. Monatelang hat der britische Medien-Mainstream weggeschaut, einzig die Tageszeitung The Guardian – vor allem die Journalistin Amelia Gentleman – berichtete konsequent über das Zunehmen einer besonderen Art von Härtefall: Menschen, die von den späten Vierzigern bis hinein in die Siebzigerjahre als Kinder aus der Karibik nach London gezogen waren, wurden heute, Jahrzehnte später, vom Home Office, dem britischen Innenministerium, plötzlich mit Deportation in das Herkunftsland ihrer Eltern bedroht.

Verschärfte Einwanderungsgesetze

Diese Leute sind Opfer einer rückwirkenden Gesetzesänderung. Zwischen 2012 und 2014, in ihrer Zeit als Innenministerin/Home Secretary, führte Theresa May Änderungen des britischen Einwanderungsrechts ein, die sie selbst als „hostile environment“, eine „feindselige Umgebung“ für illegale Enwander_innen bezeichnete. Dazu gehörte unter anderem eine neue Verpflichtung für Arbeitgeber_innen, Spitäler und Vermieter_innen, den Einwanderungsstatus ihrer Angestellten, Patient_innen oder Mieter_innen zu prüfen.

Großbritannien ist ein Land ohne Melderecht, Jahre des ununterbrochenen Aufenthalts können also sehr schwer zu nachzuweisen sein. Die Steuer- und Gesundheitsbehörden sind alles andere als hilfreich im Herausgeben von Daten und mit der Datenbank des Home Office nicht direkt verbunden. Ja noch schlimmer, wie heute Abend bekannt wurde, hat das Home Office unter Theresa Mays Leitung 2010 die Einreisekarten der ersten Generation von Einwander_innen aus der Karibik vernichtet.

Gerade Menschen am unteren Rand des Einkommensspektrums, die nie das Land verlassen und daher nie einen britischen Pass hatten, ihn verloren oder nicht verlängert haben, sind von all dem betroffen.

Menschen, die sich ihr Leben lang als natürliche Einwohner_innen Großbritanniens verstanden und mit einem Mal der Basis ihrer Existenz, ihrer Führerscheine, ihrer Bankkonten, ihres Rechts auf medizinische Behandlung, ihres Rechts auf Arbeit und zu guter letzt ihres Aufenthaltsrechts beraubt wurden.

Das Home Office zeigt ihnen die kalte Schulter ihrer Bürokratie in Gestalt gnadenloser Ausweisungsbescheide, verschickt von nicht einmal juristisch ausgebildeten Case Workers, deren impliziter Auftrag es ist, so hart wie möglich zu handeln, um eine dem hetzerischen Boulevard ins Konzept passende Statistik hervorzubringen (sie werden z.B. für die Ablehnung von Asylanträgen von der Regierung mit Einkaufsgutscheinen belohnt). Der in dieser Geschichte wie gesagt verdiente Guardian hat heute eine Zusammenfassung von einigen der schlimmsten Fälle veröffentlicht.

Darunter etwa Albert Thompson, dem nach 44 Jahren Leben und Steuerzahlen in London vom Royal Marsden Hospital mitgeteilt wurde, er müsse seine Prostatakrebs-Behandlung aus der eigenen Tasche zahlen (und der im Verlauf seiner Scherereien schließlich für drei Wochen auf der Straße landete). Sein Fall wurde sogar von Jeremy Corbyn im März im Unterhaus zur Sprache gebracht (Theresa May schob die Verantwortung zurück auf Thompson bzw. das Spital, das seinen Status auf Basis der von ihm vorgebrachten Evidenz zu beurteilen habe).

Oder Paulette Wilson, die 1968 als Zehnjährige nach England kam, ihr Leben unter anderem als Köchin in den Houses of Parliament bestritt und letztes Jahr in Schubhaft landete. Das Sinnbild könnte nicht bitterer sein: Wilson machte das Essen für die Herrschaften, die ihr mit einer Reihe von Fremdenrechtsreformen Stück um Stück das Recht auf Aufenthalt in der von ihren Eltern ausgesuchten Heimat absprachen.

Denn der Weg bis zu diesem Skandal war ein derart langer, dass heute oft nicht einmal den Nachkommen der sogenannten Einwander_innen mehr bewusst ist, wie fundamental das gegen sie und ihre Vorfahren verübte Unrecht des britischen Staates ist.

Die Ankunft eines Schiffs vor knapp 70 Jahren an Londons Tilbury Docks

Grundsätzlich beginnt diese Geschichte eigentlich mit der britischen Sklavenhaltergesellschaft, die Afrikaner_innen zu Abertausenden auf die sogenannten westindischen Inseln verschleppte, konkret aber mit der Ankunft eines Schiffs, der Empire Windrush, an den Londoner Tilbury Docks am 22. Juni 1948. Von Bord gingen 492 sogenannte Migrant_innen aus Jamaika, die von der britischen Regierung eingeladen worden waren, am Wiederaufbau des vom Krieg gezeichneten Großbritannien teilzunehmen, sei es im öffentlichen Verkehr oder im Gesundheitssystem.

Ich schreibe „sogenannt“, denn diese Leute waren zu jenem Zeitpunkt Bürger_innen des British Empire. Als in den Kolonien geborene Untertanen des britischen Königshauses hatten sie britische Pässe und machten von ihrem Recht Gebrauch, nach London zu kommen, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Jahrhunderte lang war dieses Reiserecht fast ausschließlich in die andere Richtung in Anspruch genommen worden. Weiße Brit_innen waren hinaus in die Welt gegangen und hatten dort – mit einiger Gewalt – Millionen anderer auch zu Brit_innen gemacht.

Bald nach ihrer Landung schlug den Neuankömmlingen in ihrer neuen Heimat, von der sie in ihren nach britischem Lehrplan unterrichtenden Schulen so Wunderbares gehört hatten (15 Prozent der Bevölkerung der Karibik sollte in den Fünfzigern auf die graue Insel da oben im östlichen Atlantik ziehen), der kalte Wind des Rassismus entgegen.

Nur zehn Jahre nach Ankunft der Windrush kam es zu den berüchtigten Notting Hill Riots von 1958, einer Straßenschlacht vor allem zwischen rassistischen weißen Teddy Boys und afrokaribischen Einwanderern, weitere zehn Jahre darauf hielt der konservative Abgeordnete Enoch Powell seine hetzerische Rivers of Blood-Rede, in der er prophezeite, dass der „schwarze Mann“ in Zukunft „die Peitschenhand über den weißen Mann“ führen werde, kulminierend in einem abgewandelten Vergil-Zitat: „Wenn ich in die Zukunft blicke, bin ich von Vorahnungen erfüllt. Wie der Römer sehe ich vor mir, wie der Tiber vor vielem Blut überschäumt.“

Eine Rede als Inspiration für Rechtsextremismus

Erst vorige Woche beging Großbritannien das 50. Jubiläum dieser Rede, die seither als Quell der Inspiration für Rechtsextremismus fungiert, unter anderem darin, dass das BBC-Radio eine von einem Schauspieler eingesprochene Neuaufnahme der Rede in voller Länge ausstrahlte. Mit Unterbrechungen und kritischem Kommentar, wohlgemerkt, aber die Debatte über die Sendung hob wieder einmal das öffentliche Profil Powells als Symbolfigur des im Kontext von Brexit erstarkten nativism (sprich der Überzeugung, dass nur „indigene“ Briten „echte“ Briten sein können, die in Anbetracht von Einwanderungswellen vergangener Jahrhunderte zeugender Nachnamen wie etwa dem französischen „Farage“ nicht minder lächerlich ist als ihr kontinentales Gegenstück der „echten Franzosen“, „echten Deutschen“ oder „echten Österreicher“).

Es ist ganz und gar kein Zufall, dass die Wiederentdeckung Enoch Powells im öffentlichen Diskurs mit der nun also „Windrush Scandal“ genannten, lange überfälligen Thematisierung der Misshandlung der afrokaribischen Community durch den britischen Staat zusammenfällt. Theresa Mays Politik als Innenministerin, unbeirrt fortgeführt von ihrer Nachfolgerin Amber Rudd, war und ist geprägt von der Anpassung an die Töne der populistischen UKIP, die die Konservativen vor sich her in den Brexit und in Richtung de facto rassistischer und fremdenfeindlicher Gesetzgebung geschoben hat. Dies ist nun genau der Punkt, an dem Großbritannien sich damit konfrontieren muss, wie tief sein politisches Establishment im Morast der rechtsextremen Volksverhetzung versunken ist. Die Maske des bunten modernen Britannien, sie fällt just zu Beginn des heurigen Commonwealth-Gipfels in London, bei dem man sich post-Brexit den ehemaligen Kolonien an die Brust werfen und heim ins Empire schleimen hatte wollen.

Stattdessen hören wir nun jede Menge Entschuldigungen von May, Rudd & Co. Doch selbst in den gönnerhaften Worten der britischen Regierung über das „Bleiberecht“ der Betroffenen findet sich keine Spur der Einsicht, dass sie alle im Endeffekt Nachkommen britischer Untertanen bzw. der Opfer britischer Versklavung von Afrikaner_innen sind, die dieses Land so reich gemacht hat. Dass die Bringschuld hier also einzig und allein auf der britischen Seite liegt.

Immerhin gibt es in Westminster, dem Zentrum der alten imperialen Macht, heute Leute wie den Labour-Abgeordneten David Lammy, selbst ein Sohn aus Guyana stammender Eltern, der gestern im Unterhaus die treffendste Wortmeldung des Tages an Innenministerin Amber Rudd richtete:

„Dies ist ein Tag der nationalen Schande, und er ist zustandegekommen durch eine ‚feindselige Umgebung‘ und eine Politik, die unter ihrer Premierministerin begonnen hat. Nennen wir es beim Namen: Wenn man sich mit Hunden bettet, kriegt man Flöhe, und das ist, was mit der rechtsextremen Rhetorik in diesem Land passiert ist.“

PS: Ich schrieb diesen Artikel zum bestmöglichen Soundtrack, der heutigen Sendung des Musikjournalisten Pete Paphides auf dem Londoner Online-Sender Soho Radio.
Zwei Stunden lang spielte er darin die Musik der Nachkommen der Windrush-Generation, um zu zeigen, wie viel die britische Nachkriegskultur ihnen verdankt. Die Illustrationen zu diesem Blog sind in diesem Sinne zu verstehen. Petes Sendung ist hier nachzuhören, der Twitterhashtag dazu heißt #windrushplaylist.

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