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durchgestrichener Judenstern auf Marmorwand

Quinn Dombrowski/Flickr (CC BY-SA 2.0)

Auf Laut

Was ist eigentlich Antisemitismus?

Andreas Peham erklärt im Interview, was Antisemitismus ist und wie er funktioniert.

Von Rainer Springenschmid

Kollegah und Farid Bang fabulieren von definierten Körpern von KZ-Insassen, eine Dokumentation wirft der deutschen Rapszene massiven Antisemitismus vor, europäische Regierungsmitglieder fahren Kampagnen gegen den jüdischen Mäzen George Soros – und Jüdinnen und Juden haben heute wieder Angst, in der Öffentlichkeit Kippa zu tragen.

Es ist Zeit, wieder über Antisemitismus zu sprechen. Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Thema und beobachtet die Entwicklungen genau. Und er geht auch in Schulen, um Präventionsarbeit zu leisten.

Man hört überall, dass der Antisemitismus zunimmt und dass es eine Art „neuen Antisemitismus“ gibt. Stimmt das?

Andreas Peham: Ja, wenn man den Zahlen antisemitischer Vorfälle Glauben schenken darf. Die sind nicht nur in Österreich, sondern europaweit im Steigen begriffen. Was den Antisemitismus als Weltanschauung angeht, widersprechen sich die Umfragen. Hier ist es sehr schwer, von einer Zunahme zu sprechen.

Was neu ist: der Antisemitismus, der sich als Israelkritik verkleidet – wobei nicht jede Israelkritik antisemitisch ist – wird nicht mehr nur von der extremen Rechten getragen, sondern auch von Leuten, die sich als liberal oder links verstehen, und vor allem auch von islamischer Seite, dazu kommt der offene Antisemitismus der Islamisten. Allerdings ist das das einzige, was neu ist daran ist; die Stereotypen, seine Funktionen, die Gründe für den Antisemitismus sind gleich.

Was noch dazu kommt, ist - das ist das Positive – ein gesteigertes Problembewusstsein. Er ist mehr Thema als in der Vergangenheit.

Andreas Peham vom DÖW

ORF2

Sind Farid Bang und Kollegah Antisemiten?

Zunächst einmal bin ich grundsätzlich sehr vorsichtig mit dem Wort AntisemitInnen. Die gibt es natürlich, das sind die mit dem bösen Willen zur Abwertung, Verfolgung und letztendlich Ermordung von Jüdinnen und Juden. Die viel größere Gruppe sind die, die keine AntisemitInnen sein wollen, aber etwas Antisemitisches sagen.

Ich sage also nicht „du bist Antisemit“, sondern, „das was du gesagt hast, ist antisemitisch“. In der Reaktion darauf sieht man dann, wie tief das geht. Ich begreife den Antisemitismus als Diskurs, in den alle auf unterschiedliche Art und Weise verstrickt sind. Die einen sind mehr bereit, das zu reflektieren, die anderen weniger. Die Verweigerung der Reflexion ist dann schon der Beginn des manifesten Antisemitismus.

Genau das sehe ich auch bei Kollegah und Farid Bang. Zunächst mag so ein szenetypischer Habitus, Provokation, eine Rolle gespielt haben, aber im Verlauf der Debatte, wenn man sich anschaut, wie sie auf den Antisemitismusvorwurf reagiert haben, würde ich tatsächlich von Antisemitismus sprechen – was aber nicht heißt, dass die beiden unbedingt böswillige Antisemiten sind. Da traue ich mir aus der Distanz kein Urteil zu.

Das ist für mich auch sekundär, viel wichtiger ist das, was gesprochen oder gerappt wird – das ist sehr wohl antisemitisch, auf eine gar nicht alltägliche Art, weil meistens kommt der Antisemitismus doch möglichst codiert und indirekt angedeutet, so dass er bis weit in die Mitte der Gesellschaft Zustimmung findet. Hier tritt die Aggression, vor allem gegen die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtung, offen zu Tage, da kann man schon nicht mehr von Codes und indirekt sprechen.

Die ganze Debatte beim Echo hat ja eine Vorgeschichte. Es gab diesen Palästina-Film von Kollegah und schon mehrfach Antisemitismusvorwürfe, auch gegen andere Deutschrapper.

Darüber weiß ich zu wenig, um mir ein Urteil zu erlauben. Aber ich kenne grundsätzlich, weil ich ja in Österreich auch mit Jugendlichen mit muslimischen oder Migrationshintergründen arbeite, Jugendliche, die selbst auch auf diesen Habitus anspringen, vor allem die Jungs, also diese jungen zornigen Männer. Bei denen ist der Islam dann wirklich nur Identitätsmarker, die wissen nicht einmal, was die fünf Säulen des Islam sind, aber markieren den stolzen Moslem.

Dann bekommen sie ein verzerrtes Bild vom Nahostkonflikt und verknüpfen ihre eigene Diskriminierungserfahrung – und der Islam als gemeinsames Identitätsmerkmal erleichtert das – mit dem Los der PalästinenserInnen. Darum ist es so wichtig, diesen Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus viel Raum zu geben, weil wenn ich das nicht mache, kommt es zu dieser Opferkonkurrenz. Und das scheint mir auch hier bei Kollegah und Farid Bang der Fall zu sein.

Gerade im Musik- und Kulturbereich ist die anti-israelische BDS-Kampagne („Boycott, Divestment, Sanctions“) international immer stärker vertreten – und sie wird vielfach als antisemitisch kritisiert. Wie schätzt du die BDS-Kampagne ein?

Ich gehöre auch zu den KritikerInnen. Gerade hier in Österreich ist ja die Kritik sehr stark und auch in der Überzahl, das freut mich auch. Die österreichische HochschülerInnenschaft ist die einzige Studentenvertretung in Europa, die BDS klar verurteilt hat, während vielerorts in Europa die Universitäten klar dominiert werden von solchen Strömungen. BDS steht nicht zu unrecht in der Antisemitismus-Ecke.

Hier muss man unterscheiden zwischen Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus. Da gibt es die 3D-Formel von Natan Scharanski, eine Art Lackmustest für Israelkritik: Double Standards – werden auf Israel dieselben Standards angelegt, wie auf andere Länder? Wenn das nicht so ist, ist der Antisemitismus schon in der Nähe. Das Zweite ist die Delegitimation Israels als jüdischer Staat, also wenn man genau einer Gruppe – den Jüdinnen und Juden, und nur denen – das Selbstbestimmungsrecht abspricht. Und das letzte ist die Dämonisierung, die Übertreibung. Die gehört natürlich zu jeder Auseinandersetzung, wird aber dort problematisch, wo sie die Formen des NS-Vergleichs strapaziert, und ich würde auch den Vergleich mit der Apartheid in Südafrika ergänzen. Dagegen verwahren sich ja auch die Stimmen aus der Anti-Apartheidsbewegung in Südafrika, die das als Verharmlosung der Apartheid kritisieren.

http://Und wer die Hamas oder die Hisbollah als legitimen Widerstand unterstützt, der muss sich zumindest den Vorwurf gefallen lassen, nicht besonders sensibel zu sein gegenüber Antisemitismus – vor dem Hintergrund des offenen Antisemitismus dieser beiden Gruppen.

Auch die britische Labour Party und ihr Vorsitzender Jeremy Corbyn werden immer wieder mit Vorwürfen des Antisemitismus konfrontiert.

Hier ist es natürlich auch schwer aus der Distanz die Personen und ihre Motivation zu beurteilen, aber hier sehe ich tatsächlich offenen Antisemitismus am Werken, der sich – und das ist typisch für den linken Antisemitismus – nicht nur am Zionismus abarbeitet, sondern auch an der Globalisierung, die nicht als gesellschaftlich-ökonomischer Prozess gesehen wird, sondern sehr personalisierend, sehr moralisierend, quasi im Rückfall hinter Karl Marx. Viele Linke begreifen eben den Kapitalismus und seine Auswirkungen nicht nach Marx als Struktur, sondern als das Werk böser Machenschaften.

Wir sprechen hier von strukturellem Antisemitismus, der auf die Markierung von Juden verzichtet, aber genauso funktioniert wie der Antisemitismus.

Was ist struktureller Antisemitismus?

Klassisches Beispiel ist eine Karikatur, die HC Strache 2012 auf seiner Facebook-Seite verbreitet hat: man sieht das dünne Volk mit dem Knochen am Teller, die Regierung als Kellner, die nur den Banker bedient, der ganz dick ist. Im Original hat der Banker eine Knollennase, das wäre strukturell antisemitisch, weil es ein antisemitisches Klischee verwendet, wo man nur noch den Juden einfügen muss. Das zweite Bild, das Strache zunächst verwendet hat, ist leicht verändert: statt der Knollennase hat der Banker die berühmte „Judennase“ und für die Jüngeren und die Dümmeren, die die Anspielung mit der Nase nicht verstehen, als Manschettenknöpfe noch Davidsterne. Das ist die offen antisemitische Version.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban – und seit einigen Wochen auch Teile der FPÖ – wirft dem ungarisch-stämmigen Milliardär George Soros vor, über die Finanzierung von NGOs „Flüchtlinge massenweise nach Europa zu schleusen“. Auch hier gibt es Vorwürfe, das sei antisemitisch.

Zunächst muss man zurückgehen in die Geschichte des Antisemitismus. Hitler schreibt in „Mein Kampf“, die Juden hätten die Afrikaner an den Rhein gebracht. Das ist ganz ein fixer Bestandteil unter den Völkischen schon seit den 1920er Jahren, dass es so etwas gäbe wie „Umvolkung“ oder „der große Austausch“, wie das die Identitären nennen, und dass dahinter der Jude steht. Hitler als offener Antisemit kann das offen benennen. Das geht heute nicht mehr. Also nimmt man einen heraus – hier reicht es, dass die Mehrzahl der Leute weiß, dass er Jude ist, oder man benutzt antisemitische Codes um hier nachzuhelfen, wie „international“, wie „Finanz…“, wie „Spekulant“ oder „US-amerikanische Ostküste“, und aus dem macht man dann die Beiwörter, die man dann George Soros noch umhängt.

Der Antisemitismus nach Auschwitz ist ja außerhalb islamistischer oder neonazistischer Kreise kein offener, sondern ein verschämter, indirekter Antisemitismus, und er braucht Stellvertreter – Juden, die dann stellvertretend für das Ganze stehen. Wenn sie dann kritisiert werden, sagen sie dann „Wieso, das ist mir doch ganz wurscht, dass der Soros Jude ist“.

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Wo fängt Antisemitismus an? Wie erleben junge Jüdinnen und Juden Antisemitismus heute? Und was können wir dagegen tun?
FM4 Auf Laut, am Dienstag ab 21 Uhr und im Anschluss für 7 Tage im FM4 Player.

Was ist der Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus?

Die Zuschreibung von Macht. Im Rassismus richtet sich die Aggression nach unten, der Antisemit hat sein Objekt oben, er halluziniert eine jüdische Übermacht und fühlt sich von den Jüdinnen und Juden wirklich verfolgt. Das ist auch der Anknüpfungspunkt zu den Verschwörungstheorien.

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