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Franz Reiterer

Stream Festival in Linz: Darum sind Tocotronic so, oh, so gut

Die Band Tocotronic ist der krönende Abschluss des Stream-Festival-Debüts in Linz. Zuvor nahmen uns Lola Marsh, Viech und Gundelach mit auf sommerliche Kopfkino-Reisen.

Von Maria Motter

Wo beginnen, von diesem stream of concerts zu erzählen, der die Donaulände Urfahr in ein chilliges, aufregendes und dann krönend hinreißendes Festival verwandelt hat? Mitten im Taumel und aus der Euphorie heraus, mitten im Publikum vor der FM4 Stage, die von Bäumen gerahmt wird. Tocotronic sind wieder da, für viele ist es das erste Konzert der Band, viele andere zählen nicht mehr, wie oft sie der Band schon live die Treue gehalten haben. „Rick McPhail!“ ruft Dirk von Lowtzow mitten in „This boy is Tocotronic“. Als „King of New England“ wird er den Gitarristen und Bassisten noch preisen bei der namentlichen Vorstellungsrunde. Tocotronic sind 25, der gebürtige Amerikaner McPhail ist vor 14 Jahren zum ursprünglichen Bandtrio gestoßen und nicht mehr wegzudenken.

Ein Vierteljahrhundert Tocotronic! Da ist der Albumtitel „Die Unendlichkeit“ jetzt mal angemessen, wobei die Setlist für den Auftritt am Stream Festival aus dem vollen Tocotronic-Universum schöpft. Auf „Electric guitar“ reimt von Lowtzow „inshallah“. Der Vorhang der Bühnenkulisse trägt mehr Sternbilder als am Himmel über Linz zu sehen sind, Lichtkegel auf Tocotronic bei „Drüben auf dem Hügel“. Keine drei Songs und doch hat man schon lange kapituliert und stimmt in die Aufforderung dazu mit ein. Was macht diese deutsche Band so gut und so anders, dass ihre Lieder bei jedem Anhören so für sich stehen und man sie immer wieder hören kann? Songs so vieler anderer Bands, hundertfach gehört, sind von Erinnerungen überlagert, bis der Zauber erlischt.

Tocotronic glänzen. Sie sind nicht am Stand gelaufen, doch ein Pullover mit den drei Streifen als Reminiszenz an den einstigen Trainingsjackenkult muss sein. Sie haben die anfänglichen, wenige Akkorde umfassenden Melodien ausgebaut, verziert und geschmückt und doch bleibt es Poprock mit Lyrics, die von Geschichten mit Slogans zu Geschichten wurden, die erstmal jede und jeder für sich entschlüsseln kann. „Die Illusion wird Menschenrecht“, singt Dirk von Lowtzow in „Gegen den Strich“ und es folgt ein Themenblock, in dem man sich positioniert - „Hi Freaks“, „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“, „Hey du“. Eine Bewegung gegen den Strom, eine Bewegung, die abhebt vom Boden, weil man springen will und darauf tanzen.

Wie sehr Tocotronic einen berühren, hat eine eigene Dimension. Einfache Sätze erzählen in „Unwiederbringlich“ vom Ableben eines nahen Menschen und auf dem Festivalplatz, mitten im Publikum geht es einem durch Mark und Bein. „Es gab noch keine Handys, es war alles Gegenwart. Die Zukunft fand ausschließlich in Science-Fiction-Filmen statt.“ Anmut, die einen ganz still werden lässt, und auf die nur eine Antwort und eine Erkenntnis folgen kann: Hier und jetzt und „Zucker“!

Die „Wooohoos!“ sind so laut, dass sich Besucherinnen bei den umstehenden FestivalbesucherInnen dafür entschuldigen. Nicht doch! Nichts schöner, als wenn andere laut werden, wenn man selbst grad ganz still ist. Das macht Festivals so einzigartig, dass hier alle zusammenkommen und die Begeisterung überschwappt. Tocotronic sind die Krönung des Stream-Festival-Debüts. Und im Juli sind sie das nächste Mal in Österreich, in der Wiener Arena. Auf dass die Sehnsucht nie verbufft.

Gundelach schicken uns schon am Nachmittag musikalisch auf eine jener Straßen, die mit dem Schild „Scenic route“ ausgewiesen sind. Die Songs des Norwegers, der mit Keyboarder und Schlagzeuger nach Linz gekommen ist und sich für einen Track eine Sängerin digital an die Seite stellt, sind schillernd und von der Unbeschwertheit von Seifenblasen. Die sommerlichen Beats machen Lust auf die Donau.

In die Cinemathek mit Lola Marsh

Lola Marsh haben von all ihren Songs Versionen für jede Bühnengröße, ob FM4 Private Session oder Open Air. Für das Stream Festival sind Lola Marsh auf bombastisch eingestellt, die große Haarmasche sitzt, all is set und Lola Marsh sind in voller Bandbesetzung wieder in Österreich. Das Emoji Haarschleife muss gemacht worden sein für Yael Shoshana, die seit 2013 mit Gil Landau ihre Songs schreibt, mal sie die Lyrics, mal er die Noten und dann wieder umgekehrt.

Inzwischen spielen Lola Marsh auch Gigs für Chloé, sie sind permanent auf Tour und eine Perfektion von cineastischem Popfolk. Es ist nicht nur die Sonne, die einen in Gedanken in eine landschaftliche Weite versetzt. Nach „Wishing Girl“ bläst einen dann „You’re mine“ in der Festivaldarbietung fast weg – die Intimität des Morgens, die da besungen wird, wird gar nicht erst angestrebt.

Jetzt, da die Verhältnisse geklärt sind, noch ein kleiner Toast auf das Leben - „Let’s do a little Prost! L’Chaim!“ - und dann sattelt die israelische Band die Pferde und die Melodie galoppiert. Lola Marsh huldigen der Filmmusik von Western, besonders in „Sirens“. Filme sind eine große Inspiration für die Band, der Name Wes Anderson fällt in Interviews. „Ich würde es mir wünschen, dass ein Film vor deinem inneren Auge abläuft, wenn du unsere Songs hörst“, hat Landau einmal dazu gesagt und unter freiem Himmel in Linz streamt das Hirn schon die Bilder von Prärielandschaften. Ein Cover zum Schluss geht sich aus: „These boots are made for walkin’“ hat sich Lola Marsh angeeignet.

Viech hat Platz für eine Hollywoodschaukel

Kopfbilder gehören auch zu Viech. Die eigenwilligen Poeten haben die Karten elektronische Musik vs. klassischer Schlagzeug-Gitarre-Bass-Klang für sich neu gemischt. Das dritte Album „Heute Nacht nach Budapest“ ist vor wenigen Wochen erschienen. Viech haben die Sammlung elektronischer Tastengeräte in die Abstellkammer verräumt, zum Livekonzert bringen sie Gitarre, Bass und das Schlagzeug – sie hätten noch Platz im Auto, etwa für eine Hollywoodschaukel, lässt Paul Plut wissen. Das Wort Hollywoodschaukel, das einem höchstens noch im Baumarkt unterkommt, passt so sehr zu Viech und ihrem Schmäh.

„Mit dir möcht ich baden gehen“, ist ihr erstes Lied und den Abschluss macht der neue, ja, es ist schon einer, Hit „Ich hab viele Fehler gemacht“. Die Bühne erscheint den Musikern groß, soviel Platz sind sie nicht gewöhnt. Viech sollten viel öfter auf großen Open-Air-Bühnen stehen, das steht ihnen ziemlich gut, da müssen sie nicht mehr reinwachsen.

Viech sind sympathisch, in ihrer zurückhaltenden, höflichen Art und voll Freude über das Teilen ihrer Musik, das gefällt Besuchern des Stream Festivals, die erst verdutzt waren über die Lieder. Das Stream hat bei seinem Debüt auf eine Mischung aus österreichischen und internationalen Acts gesetzt, die im guten Sinn eigenwillig sind. Auf einen erfüllenden Tag folgt die Nacht: Übergang in die Clubs der Stadt und aufs „Schiff“, wie die LinzerInnen das Salonschiff Florentine nennen. Stream Festival, wir sehen uns 2020, Bussi!

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