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Recep Tayyip Erdogan bei einer Siegesrede vor seinen Anhängern.

ADEM ALTAN / AFP / picturedesk.com

Ein folgenreicher Sieg

Der alte und neue Präsident der Türkei heißt Recep Tayyip Erdoğan. Wieso er gewonnen hat und was seine neue Macht für die Türkei bedeutet.

Von Ali Cem Deniz

Seit einigen Jahren scheint die Türkei in einer Zeitschleife zu stecken. Politische Krisen, Druck auf Opposition, instabile Wirtschaft und immer wieder Wahlen. Und trotzdem machen Türkinnen und Türken offensichtlich nichts lieber, als an die Urnen zu gehen. Gestern gab es mit etwas mehr als 88 Prozent einen Rekord bei der Wahlbeteiligung. Das ist vielleicht die wichtigste Zahl eines Wahlabends. Mehr Menschen als je zuvor haben ihre Stimme abgegeben.

Was für ein Präsident?

Als neuer mächtiger Präsident steht Recep Tayyip Erdoğan einer Bevölkerung gegenüber, die quer durch alle Gruppen und Schichten fest davon überzeugt ist, dass sie mit ihrer Stimme die Politik direkt beeinflussen kann. Und er hat weiterhin eine Opposition, die trotz aller Widrigkeiten ihre WählerInnen mobilisieren kann.

Anhänger von Recep Tayyip Erdogan feiern Wahlsieg.

YASIN AKGUL / AFP / picturedesk.com

Gut gelaunt: AnhängerInnen von Erdoğan

Dass Erdoğan trotzdem gewonnen hat, ist wenig überraschend. Denn auch er schafft es immer wieder, seine Anhängerschaft zu den Urnen zu bewegen. Als erster Kandidat des Präsidialsystems, das er selbst eingeführt hat, hatte er besonders gute Chancen. Außerdem profitierte er von dem vorgezogenen Termin der Wahlen und von der militärischen Intervention in Syrien.

Was das neue Präsidialsystem, das mit dieser Wahl in Kraft getreten ist, in der Praxis bringen wird, wird sich jetzt zeigen. Recep Tayyip Erdoğan kann Minister ernennen, per Dekret regieren und hat mehr Einfluss auf die Justiz. Damit ist er der mächtigste Politiker in der türkischen Geschichte. Doch auch das Parlament ist nicht ganz machtlos, sondern mit Kontrollmechanismen ausgestattet, die dem Präsidenten Kopfschmerzen bereiten könnten. In der Nationalversammlung sitzen jetzt mehr Abgeordnete als zuvor und auch sie können Dekrete des Präsidenten rückgängig machen. Außerdem kann das Parlament, so wie der Präsident, Neuwahlen ausrufen. Und im Parlament hat Erdoğans Partei AKP ordentlich Sitze einbüßen müssen.

Die Zombie-Nationalisten

Denn während Erdoğan die Präsidentschaftswahl mit großem Vorsprung für sich entscheiden konnte, hat die Regierungspartei AKP mit 41 Prozent bei den Parlamentswahlen eines ihrer schlechtesten Ergebnisse eingefahren. Sie wird sich einen Koalitionspartner suchen müssen. Dieser stand schon vor der Wahl fest: die nationalistische MHP. Ihr Wahlergebnis ist eine der großen Überraschungen.

Im Windschatten Erdoğans hat es die MHP geschafft, sich als alternative, aber Erdogan-freundliche Partei zu etablieren. Und obwohl sich die totgeglaubte Partei gespalten hat, war sie mit über 11 Prozent unerwartet erfolgreich. Als Bündnispartnerin der AKP ist sie damit in der bequemen Position des „Königsmachers“. Von der AKP kann sie jetzt mehr fordern, als Erdoğan lieb sein kann. Zukünftige Konflikte zwischen den aktuellen Bündnispartnern sind also nicht ausgeschlossen.

Neubeginn für die Opposition

Eine Überraschung gab es auch in der Opposition. Die pro-kurdische HDP, deren Anführer Selahattin Demirtaş vom Gefängnis aus angetreten ist, hat mit 11,6 Prozent den dritten Platz eingenommen. Das ist insofern beachtlich, als die HDP wieder mal de facto vom Wahlkampf ausgeschlossen war und von den Medien völlig ignoriert wurde.

Ihre Stimmen bezieht sie hauptsächlich aus den mehrheitlich kurdischen Gebieten im Südosten des Landes. Ihr gutes Abschneiden bedeutet für Erdoğan, dass die „Kurdenfrage“, wie sie in der Türkei genannt wird, weiterhin auf der Tagesordnung steht.

CHP-Präsidenschaftskandidat Muharrem Ince an der Wahlurne

UYGAR ONDER SIMSEK / AFP / picturedesk.com

İnce hatte gute Aussichten, aber eine erfolgslose Taktik.

Und schließlich zur größten Oppositionspartei CHP. Sie hat mit Muharrem İnce einen aussichtsreichen Gegenkandidaten aufgestellt, der mehr als 30 Prozent der Stimmen bekommen hat. Bei den Parlamentswahlen hingegen war die CHP mit 22 Prozent deutlich schwächer.

Es war auch die CHP, die zunächst Manipulationsvorwürfe erhob, aber am Ende des Wahlabends mit ihrer eigenen Wahlbeobachtungsplattform das Ergebnis bestätigte.

Der gemischte Erfolg der CHP liegt nicht zuletzt an ihrem zweigleisigen Wahlkampf. Sie war die einzige Partei, die nicht mit ihrem Vorsitzenden kandidierte. So fuhr sie zwei Wahlkämpfe, die zwar inhaltlich gleich, aber personell unterschiedlich waren. Aufgegangen ist das nicht, aber die Beliebtheit İnces könnte bei der CHP, die sich seit Jahren in einer Führungskrise befindet, zu einer Neuorientierung führen.

Auf zur nächsten Wahl

Wer die Türkei etwas genauer verfolgt, wird wissen: Jede Wahl gilt als “Schicksalswahl”. Doch wie jede Wahl wird auch diese Präsidentschaftswahl zunächst wenig ändern. Die Probleme der Türkei bestehen weiterhin. Tausende Menschen sind wegen angeblicher Verwicklung in den gescheiterten Putschversuch von 2015 in Gefängnissen oder haben ihre Jobs und Existenzen verloren.

Die Kluft zwischen Erdoğan-BefürworterInnen und GegnerInnen ist auch durch diese Wahl ein Stück größer geworden. Und der Wertverlust der Lira ist enorm.

Erdogan feiert mit seiner Frau

APA/AFP/Adem ALTAN

Das alles wird sich auf das neue „System Erdoğan“ auswirken. Wenn er autoritärer regiert und die Repressionen mehr werden, wird auch der Druck der Opposition steigen. Und hinter der steht weiterhin knapp die Hälfte der Bevölkerung. Und die andere Hälfte, die, die ihn gewählt hat, erhofft sich von Erdoğan jetzt rasantes Wirtschaftswachstum, Wohlstand und eine mächtige Türkei - kurz gesagt, ein Wunder.

Ob sich diese Erwartungen erfüllen lassen, ist fraglich. Sicher ist nur: die nächste “Schicksalswahl” kommt bestimmt und vielleicht wieder früher als geplant.

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