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Klein

ORF / Johannes Puch

TAGE DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR

Ein Delirium und eine Verfolgungsjagd später

Das Finale beim Lesen um den Bachmannpreis bringt die FavoritInnen ins Spiel. Und lotst uns von Wohnungen im Herzen Europas in ferne Wildnis.

Von Maria Motter

„Das ist der längste Flug: Frankfurt am Main - Buenos Aires“, stellt die Jurorin Hildegard Keller im Finale fest. Die letzten Tage hindurch waren wir unterwegs in Geschichten an Orten wie Bolechiw in der Ukraine oder den Lagunen von Chacahua in Mexiko. „Opak“ ist es mitunter zugegangen, undurchsichtig, und dann wieder schlicht liebevoll. Zur Halbzeit sind die FavoritInnen aus dem Saal geschlendert: Geht es nach den Meinungen der Jury, gesellen sich zu Stephan Lohse noch Bov Bjerg, Tanja Maljartschuk und Ally Klein sowie Özlem Özgül Dündar.

In fremden Städten fotografiert man Dinge, die man zuhause nicht fotografieren würde. In fremden Städten klettern manche auch auf umzäunte Sehenswürdigkeiten, wie eine Person auf den Lindwurm. Beim Bachmannwettbewerb geht es vornehm zurückhaltend zu. Nora Gomringer trägt mal ein Shirt mit vielen Fotos von Angela Merkel, dann erinnert sie an den Anfang Juli verstorbenen Lyriker Oleg Jurjew. Mehr Pop wird es diesmal nicht und das ist okay so. Mit Verlaub: Big Names fehlen dieses Jahr. Das ist mehr als okay so. Es geht um Entdeckungen, die das Publikum beim Zuschauen und Zuhören machen kann.

Feridun Zaimoglu hat bei der Rede zur Literatur erklärt: „Wir lesen, wir lesen, wir kämpfen. Wir stehen bei den Verlassenen“. In wenigen der vielen Geschichten in Klagenfurt diesmal waren sie dann Antihelden, diese ausgemachten Verlassenen.

Zita Bereuter und Feridun Zaimoglu

Maria Motter

Eine leise Favoritin

Tanja Maljartschuk bringt „Frösche im Meer“ nach Klagenfurt.

Plot: Ein Mann ohne Dokumente, einst in der Ukraine zuhause, und trifft eine demente Frau in einer Situation, die einer Person zum Verhängnis wird.

Der Text in drei Sätzen: „‚Warum denn, Frau Grill?‘ Das Tageslicht schwand mit jedem Augenblick mehr und wischte das Alter weg, dämpfte Frau Grills Demenz, ihre viel zu weite graue Haushose, ihre weiße Bluse mit den Tomatenflecken. Petro weinte leise, ohne Tränen, er wollte Frau Grill nicht ängstigen.“

Das sagt die Jury: Nora Gomringer ist begeistert („Dass wir endlich eine richtige Geschichte haben!“). Es sei eine ganz einfache Geschichte, gleichzeitig aber sehr kompliziert, gibt Insa Wilke zu bedenken: Es sei ein sehr abgründiger Text. "Ja, genau so ist es“, stimmt Kastberger zu. „Die Verlage werden sich darum reißen, solche Geschichten kommen an. Die Frage der Glaubwürdigkeit stellt sich mir – es kann schon so sein.“ Der Text sei eine Parabel, hebt Stefan Gmünder hervor: Obacht, man könne sich in dem Text schnell täuschen. „Die Geschichte ist so fertig, dass man sich schwertut, sie geistreich zu umgarnen“, gibt sich Hubert Winkels geschlagen.

An die Substanz gegangen

Plot: Plötzlich ist sie dann da, die Panikattacke, die doch ausbleiben sollte: Auf sieben Seiten seziert Ally Klein in ihrem Text “Carter“ körperliche Zustände so packend, dass es nachvollziehbar ist, wie es da ein Ich hernimmt. Eine ausführliche, schlüssige und persönliche Interpretation dazu findet sich auf Twitter.

Der Text in drei Sätzen: „Ich öffnete die Augen, ich glaubte, meine Augen geöffnet zu haben, alles schwarz. Ich riss sie auf, spürte aber schon, wie die Lider sich schwer über die Augäpfel zogen, sich langsam über sie senkten, da erklang schon wieder, der Auslöser, der mich ins Bewusstsein zurückgeholt hatte, es klopfte. Aber jetzt, jetzt zerfällt es vor mir, verdunkelt und verrinnt, zerläuft in kleine leuchtende Punkte, das Gesicht.“

Klein

ORF / Johannes Puch

Das sagt die Jury: Das sei ein toller Text mit einem Sog von Anfang an: „ein grell beleuchtetes, opaques Kammerspiel haben wir hier“. Er habe das „wahnsinnig gern gelesen“ und „das Präzise“ nehme ihn „total für den Text" ein. Jury-Vorsitz Hubert Winkels interpretiert den Text als „Litanei“: „Im Grunde ist es eine Art Kosmogonie, eine Weltschöpfung, man könnte sagen: wie jemand auf die Welt kommt und die Welt empfindet. Weil alle Sinne durchgespielt werden“ und doch sei das „ein bisschen öde“. „Ein Kammerspiel mit sich selbst, in sich selbst, beklemmend und toll gelesen“, befand Nora Gomringer. Viele der bereits gehörten Texte seien Versuchsanordnungen, Ally Kleins Text hingegen funktioniere „organisch“.

Schnell nachgeschlagen: Solarplexus.

Der Sohn nicht wie der Vater

Der Text, den Bov Bjerg zum Bachmannbewerb bringt, wird Teil eines Romans werden. Doch das wird noch dauern, verrät der Autor im FM4 Interview. „Serpentinen“ ist also auch ein Romanauszug, doch die Geschichte steht auf festen Beinen. Auch wenn im Text einem Buben die Schuhbänder aufgegangen sind und der Vater mit ihm unterwegs in den Bergen ist. Bov Bjerg erzählt schlicht liebevoll und in klaren Worten: eine Familiengeschichte voller Abgänge ohne Abschiede und vom Versuch, das alles auf die Reihe zu bekommen und sich zu emanzipieren. Das geht einem nahe – ganz ohne dass es einer Anstrengung beim Lesen bedarf. Beeindruckend und schön.

Der Text in drei Sätzen: „Der Junge öffnete den Verschluss seiner Wasserflasche, setzte sie an den Mund, und während er schluckte, suchte er mit den Augen den Hang ab. Es war also möglich, sich zu befreien, dachte ich später, nicht nur in Romanen und Filmen und Songs, sondern auch im richtigen Leben. ‚Du hast doch so eine App, auf dem Handy. Die Sterne erkennt.’“

Bjerg

ORF / Johannes Puch

Das sagt die Jury: „Ziemlich spektakulär“, urteilt Insa Wilke, und verteidigt sofort den einzigen Einwand, der von Hubert Winkels kommt: „Motivlich“ sei der „aber gute Text“ zu dicht. Stefan Gmünder sieht Vater und Sohn eher auf der Flucht. Der Literaturkritiker mag Texte, die zwischen Männern und Kindern spielen, weil sofort die Leerstelle der Frau/Mutter auftaucht - „ein schöner Text“ und der zweite Teil sei stärker als der erste. Das sei ein radikal erzählter Text und sehr raffiniert, attestiert Hildegard Kellermann. Auch Nora Gomringer ist voll des Lobes: „Sehr bewegend. Ein ausgezeichneter Text.“ Die Provinz sei hier nicht Stillstand, sondern im Wandel, merkt Michael Wiederstein an und freut sich über den „optimistischen Twist“ am Ende. Der Text suggeriere Verzweiflung über den Zustand der Evolution, erläutert Winkels das Gehörte. Kurz ist man sich uneins, welche Frage der Text stellt. Klaus Kastberger, der Bov Bjerg zum Lesen um den Bachmannpreis eingeladen hat, führt aus: „Was ist Identität? Was ist Heimat? Wie definieren wir uns?“ Neben den schweren Themen gäbe es da auch Leichtigkeit und den Witz des Buben.

Überraschendes Detail: Da steckt einer in einem unbeobachteten Moment im Krankenhaus die Schere ein, mit der er die Nabelschnur seines Kindes durchtrennt hat.

Unter der Schnellbahnbrücke

Anselm Neft trägt seinen Text „Mach’s wie Miltos!“ vor, pointiert betont.

Plot: Da hat einer alles verloren, was ihm Halt gab, bis auf die Hündin Lucy – es kommt, wie es kommen muss.

Der Text in drei Sätzen: „Er hörte das Geräusch, das der Toaster macht, wenn gebräunte Vierecke aus ihm herausspringen. Geräuscherinnerungen, Phantomgeräusche. ’Lass die Scheiße‘, sagt er, und er zieht den Mantel schnell wieder ab. Ein Quietschen hallt nach.“

Das sagt die Jury: „Da erfriert jemand“, erkennt Insa Wilke. „Wir haben diesen Last-Picture-Film, der da verbeifließt“, die durch Trauer zerstörte Biografie und das Sich-Auflösen in Sinnen. Jemand, der auseinanderfällt.“

Jurymitglieder Kastberger und Wilke

ORF / Johannes Puch

In Mexiko, wo meine Träume sind

Vielen galt der Autor Jakob Nolte lange vor seiner Lesung als Favorit für den Bachmannpreis 2018. Sein Text „Tagebuch einer Frau, die am Fall beteiligt war“ verrät noch nichts über den Prozess, der ein Auslöser für etwas Größeres in einem Roman sein könnte.

Der Text in drei Sätzen: „Details vom Fall, die ich bereits seit Wochen von mir fernzuhalten, beziehungsweise mich vor ihrer Zerstörungskraft zu schützen versuchte, drängten langsam, wie fluoreszierende Algen durch Bewegung aktiviert, an die Oberfläche meines Denkens. In einem Dorf ein paar Dörfer weiter die Küste entlang, gab es wohl so viel Kokain, dass zur Meisterschaft die Markierungen eines Baseballfelds damit gekalt wurden. Ich saß bloß da und schaute nach oben.“

Das sagt die Jury: „Natürlich schreibt kein Mensch so Tagebuch“, stellt Stefan Gmünder fest. Die kritische Haltung der Sprache und die Paranoia im Spiel würden eine ganz reizvolle Fassung ergeben. Für Hildegard Kellermann ist das „Mexiko-Kitsch“. „Was ist ein ‚unbedarftes Delirium‘?“, fragt die langjährige Jurorin. Neo-Jurorin Insa Wilke hatte den Eindruck, der Text sei „ein Piranha“. „Ich mag das modische Wort dekonstruieren eigentlich nicht mehr nennen“, sagt der Juryvorsitzende Hubert Winkels, sich selbst reflektierend. Das Ich würde sich am Ende im Text auflösen, diese romantische Schreibweise würde einem die Tränen in die Augen treiben, wenn man nur genau lese. „Ich finde es schön, dass du uns vermittelst, dass Herr Nolte auch besser und anders kann“, kommentiert Nora Gomringer. Sie findet den Stil eitel und ist gelangweilt davon. „Todlangweilig“, urteilt Wiederstein, keineswegs jedoch negativ: L’ennui, die Langeweile, als literarisches Motiv hat ihre Tradition.

Der Soundtrack: „Von irgendwoher war ein Cello zu hören, das düster und schmierig dröhnte.“

Drei Powidldatschkerl, bitte sehr

Nach Gagausien führt Stephan Groetzner mit seinem Text „Destination: Austria“ und zählt ein Motiv nach dem anderen auf.

Der Text in drei Sätzen: „Dachte es dreimal hintereinander: Powidltatschkerl, Powidltatschkerl, Powidltatschkerl. Bondajew stellt sich ans Büffet und macht die Bekanntschaft des Stellvertretenden Kammerrats und Geheimen Vizesekretärs des Konsul Magister, Herrn Professor Doktor Doktor Kaschperl. Dann war plötzlich alles vorbei.“

Das sagt die Jury: Es handelt sich um eine Ineinanderdrehung von Motiven, versucht es Insa Wilke und will eine James-Bond-Parodie erkannt haben. „Das ist eine k&k-Persiflage mit Knalleeffekten“, sagt Hildegard Kellermann und ahmt die Buntbarsche nach, die am Textanfang vorbeischwimmen. „Simpel gestrickt“, urteilt Kastberger. Für Winkels ist es „billig“. Stefan Gmünder setzt nicht zur Verteidigung an.

„Wen interessiert das außerhalb von uns?“, fragt Juror Klaus Kastberger seine KollegInnen. Ein berechtigter Einwand. Der Lagerkoller ist leider eingeschrieben in die 42. Tage der deutschsprachigen Literatur vulgo Bachmannpreis. Die Jury lädt die AutorInnen nach Klagenfurt ein, sie kennt die Texte. Bei Public Viewing im Lendhafen eilen viele zur Mittagspause kurz weg, um Proviant zu kaufen.

Mittagspause am Lendhafen

Maria Motter

Ein Brandanschlag

Özlem Özgül Dündar hat sich bei drei Jurymitgliedern beworben und tritt jetzt auf Einladung von Insa Wilke mit ihrem Romanauszug „und ich brenne“ an.

Der Text in drei Sätzen: „im schlaf noch höre ich es und das geräusch dringt in meinen traum und dann höre ich stimmen die sich mit den stimmen in meinem traum vermischen und dann rieche ich es und wache auf dieser geruch gehört nicht hierher und er wicht mich ich rieche es erst leicht dann stärker und wache auf“

Das sagt die Jury: „Eine Sprachwucht - ich kann nur dankbar stottern“, so Nora Gomringer. Anderer JurorInnen wollen den Inhalt mit realen Anschlägen in Verbindung bringen. Klaus Kastberger wendet ein, dass der Text all das offen lässt und lobt die lyrische Qualität. Die Stimmen der Mütter im Text sind nicht zu unterscheiden, stellt Hildegard Keller fest und deutet dies als Verschwimmen der Grenzen zwischen den Müttern. „Wenn schon alle so verliebt sind in den Text: Mir ist der Text an vielen Stellen zu explizit“, meldet sich Michael Wiederstein zu Wort.

Ein Mash-up durch die jüngere deutsche Geschichte

Lennardt Loß „Der Himmel über 9A“

Der Text in drei Sätzen: „In Deutschland hätte man ihn nach der OP vermutlich in U-Haft genommen. Denn offiziell lebte dort kein Hannes Sohr, der eine 6,35mm Browning aus einer Polizeiwaffe in seinem Bauch hatte. Er presste die Augen zusammen, lauschte in den dunklen Pazifik.“

Das sagt die Jury: Erstmal wird der Text nacherzählt. Ist der Text komisch? Man ist uneins. Ein unheimlich zusammengezwungener Cliffhanger, wie Hildegard Kellermann es festmacht, am Ende des Lesemarathons. Beim Hinausgehen aus dem Landesstudio ruft eine Besucherin Lennardt Loß begeistert „Super!“ zu.

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