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Atmosphäre am Melt Festival 2018

Anna Schneider

festivalradio

Da schmilzt das Herz

Gedanken zum autobiographischen Potential von Musik am Melt! Festival in Ferropolis, Deutschland. Es war auch heuer wieder ein großer Erfolg.

Von Lisa Schneider

Die letzten Sonnenstrahlen tanzen auf der Diskokugel, es sind sogar zwei, drei, vier; überdimensioniert hängen sie da oben, zwischen dicken Stahlträgern, und bringen das Glitzernde ins Dunkle. Ferropolis, so heißt die Stahlstadt nahe Gräfenhainichen/Dessau, die zur Musikfestivallocation umfunktionierte ehemalige Kohleabbaustätte. Anstatt die metallenen Ungetüme wegzuräumen, wird hier recycelt. Es ist allem voran genau diese Spielstätte, die die meisten BesucherInnen wieder und wieder anzieht. Seit bald 20 Jahren findet das Melt! Festival hier statt, und auch das Splash Festival ist am Wochenende zuvor hier über die Bühnen gegangen.

Atmosphäre am Melt! Festival

Anna Schneider

Ferropolis ist aber nicht nur Stahl und Beton. Weil es auf einer Halbinsel gelegen ist, wird natürlich auch der Wasserzugang genutzt, und das nicht nur zum Baden. Ein eigener Festivalstrand wurde angelegt, mal mehr, mal weniger versteckt, man schleicht durchs Dickicht, bis der Beat auf einmal wieder lauter wird, so wie etwa auf der Forest Stage oder der so schön benannten „High Snobiety“. Das Potential, sich da unten im Wald zu verlaufen, ist ähnlich groß, wie Neues zu entdecken, zum Beispiel das Art Forum mit Installationen junger deutscher KünstlerInnen, das heuer das erste Mal dort am Strand platziert wurde.

Melt Festival 2018 Waldbühne

Woodywoodsn

Britischer Besucherstrom

Letztes Jahr hat sich das Publikum am Melt! Festival etwa zu 50:50 aus national und international zusammengesetzt. Dieses Jahr kommt es mir allerdings so vor, als hörte ich an jeder Ecke einen anderen englischen Dialekt. Am Melt! Festival habe ich mich mit sehr vielen Iren, Schweden, Finnen und Holländern unterhalten, vor allem aber auch sehr vielen Menschen aus London. „The festival culture in London is just not the same as here. People are so nice and welcoming, even if you’re completely drunk, they will take care of you. Haven’t ever experienced that in London.“ Dass das legendäre Glastonbury Festival, Pilgerstätte aller musikbegeisterten Engländer, heuer aussetzt, hat also nicht nur etwa aufs Primavera Sound Festival in Barcelona gelockt, sondern auch nach Ferropolis.

Natürlich geht es aber nicht nur um Bier und Champagner (beides wird großzügig ausgeschenkt), sondern auch ums Line-Up. Viele BesucherInnen kommen schon seit Jahren hierher, zwei junge deutsche Frauen haben etwa das Melt! Festival zu ihrem Festival erkoren, sie feiern hier jedes Jahr ihre mittlerweile fünfzehnjährige Freundschaft. Dass dann noch Acts wie Florence and the Machine, Fever Ray oder The xx auf der Bühne stehen, ist der Zuckerguss obendrauf (Sidenote: ein weibliches Headliner-Trio wird hier präsentiert, ein auch hierzulande seltenes Phänomen).

„Call me Lonely“

Es ist noch ein Name, den alle am Freitag, dem ersten Abend, flüstern: Tyler, Tyler, Tyler. Der umstrittene Rapper Tyler, The Creator. Sein wohl bekanntester Song „Yonkers“ fasst die Zerrissenheit schön zusammen: „I’m a fucking walking paradox, no I’m not.“ Der Rapper als wandelnder Widerspruch, der ein Geheimnis um alles macht, auch um seine mögliche Homosexualität. Noch 2011 fließt in sein Album „Goblin“ das negativ konnotierte „faggot“ an die 200 Mal ein, auf dem aktuellen Album „Flower Boy“ heißt es nicht weniger offensichtlich: „I’ve been kissing white boys since 2004.“ Das alles, Tylers Hin- und Herschwanken im Liebesleben, könnte dem Publikum ja getrost egal sein; nur ist es das, was auch seine Liveshows durchdringt – nicht die Liebe, aber die Provokation und der ewige Widerspruch. „I love you“ – brüllt er, und die ZuhörerInnen hängen an seinen Lippen, schreien, hüpfen, singen mit. Dann aber snap in the face: „I said that I fuckin’ hate you, bitch.“

Tyler, the Creator am Melt Festival 2018

Christian Hedel

Er ist sehr cool, da oben, der ewige Poser, mal am Podest, mal ohne, aber immer ganz alleine, ohne Band auf der Bühne. Er kann das. Die Show am Melt! Festival, wie auch viele seiner vorhergehenden diesen Sommer, ist ein atemloses Set, und so euphorisch wird man das Melt! Publikum an diesem Wochenende kein zweites Mal erleben. Es ist dann doch das Identifikationspotential, Sätze wie „My name is Lonely“, mit denen Tyler seinen Narzissmus, wenn auch nur kurz, herunterschraubt und zum uncoolen Typen von nebenan wird, der Träume, und noch mehr Ängste hat. Musik funktioniert auch hier über kollektive (Schmerz-)Erfahrungen, die das Publikum, und mehr noch das Publikum mit dem Superstar vereint.

My songs turn alive because of you

Dieser Gedanke funktioniert ähnlich beim Gig von Florence And The Machine. Zwar gibt es hier opulenten Barockpop statt Rap und ein riesiges Ensemble auf der Bühne statt Lonerism, das Musikverständnis bleibt aber dasselbe. Es sind die großen Gefühle und vor allem das große, gebrochene Herz, das Florence Welsh schon oft besungen hat: diese universelle, schmerzliche Erfahrung, die sie mit sicherlich allen ZuhörerInnen teilt und mit der sie direkt hineinspielt ins kollektive Gedächtnis. Ihre Erfahrung, und doch wieder die von allen.

Florence and the machine am Melt Festival 2018

Stephan Flad

Gerade hat Florence Welsh ihr viertes Album veröffentlicht, es heißt „High As Hope“ und spricht offener von privaten Dingen als je zuvor. Schon auf „Hunger“, einer der ersten veröffentlichten Singles, handelt Florence Welsh ihre einstigen Essstörungen ab. Sie selbst kündigt den Song mit den Worten an: „I never thought I would sing about that. But you, when you listen, sing and dance to that song, you turn something painful into something joyful. It’s all you!“. Da kreischt das Publikum, das gerade zum Therapeuten erklärt wurde, es ist doch auch ein schönes Geschenk, nicht nur sie gibt uns, auch wir geben ihr.

Viel ist über die bombastischen Stimmqualitäten von Florence Welsh gesagt worden, es bestätigt sich auch am Melt! Festival wieder. Und doch wirkt ihr euphorischer Pop etwas aus der Zeit gefallen. Es gibt natürlich auch ältere Songs (vom wohl besten Album „Ceremonials“) oder ihre jetzt schon Evergreens („The Dog Days Are Over“, „You Got The Love“) zu hören. Wenn sie aber wie schon vor etwa drei Jahren, als ich sie in München live gesehen habe, alle auffordert, „to hug a stranger right beside you“, bildet sich ein etwas fahler Geschmack im Mund. Das ist alles so schön, und so gut gemeint, dass es schon fast wieder zu viel ist. Die totale Hingabe, die Aufforderung „to shake off your demons“, kippt an mancher Stelle ins Platte.

Autobiographie nicht nur im Text

Autobiographisches Schreiben muss nicht immer nur in die Texte einfließen, auch wenn es so am Offensichtlichsten passiert. Autobiographisch kann auch die Art sein, wie an Musik herangegangen wird, geprägt etwa davon, wie man musikalisch sozialisiert worden ist.

Mura Masa etwa wächst in einem kleinen englischen Ort namens Castel auf und bastelt seit jeher Beats in seinem Schlafzimmer. Auch beim Interview deutet er grinsend auf seinen Laptop und seine Headphones, die er auch jetzt als gefeierter Produzent immer mit hat. Mehr braucht er nicht, schlicht und einfach, er hält seine private Person eher im Hintergrund: "I try and be as unclear as possible, trying to give as little of myself away as possible because I see myself as a very shy person. But honesty I guess is the most important, because people can feel that in a song.“

Er schreibt die Texte seiner Songs nicht selbst, aber das ist auch genau das, was er will: „I always try and pick artists who are gonna write about something that is relevant to me, what I want to express. I enjoy not getting in their way, that serves the narrative.“

Das Bodenständige tauscht Mura Masa auch gern einmal gegen das Romantische, und auch, wenn seine private Person beim Produzieren in den Hintergrund tritt, fließt sein Privatleben in seine Songs ein. „Blue“, den er gemeinsam mit Damon Albarn aufgenommen hat, ist seiner Freundin gewidmet.

Atmosphäre am Melt Festival 2018

Anna Schneider

So viel noch zu erzählen übers Melt! Festival, von Sonnenuntergangskonzerten der Schmusesaitenzupfer Cigarettes After Sex, gefolgt in bester Gitarrentradition von WhoMadeWho oder BadBadNotGood. Oder vom Rave-Pop von Little Dragon, vom Eperimental-Pop der Tune Yards, von der besten Drag/Trans-Show von Fischerspooner (female? male? human!) oder vom tatsächlich nie schlafenden Sleepless-Floor, an dem 72 Stunden durchgefeiert worden ist. Oder vom Geheimtipp-Erforschen, dieses Mal angeführt vom großartigen Londoner Musiker Rex Orange County, auf dieses Klavierspiel wäre sogar Randy Newman neidisch (und war nicht umsonst gerade mit ihm im Studio). Er singt über verlorene Freundschaften, ein Auge zwinkert immer mit, er nimmt das nicht ganz so ernst. Ob er alles, was er über die Liebe erzählt, mit seinen 20 Jahren selbst erlebt hat, muss ich ihn noch fragen.

Bird View Melt Festival 2018

Stephan Flad

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