FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

David Lynch The Art Life

Polyfilm

Im Reich der Gegensätze

Meisterregisseur und Allround-Künstler David Lynch hat seine Autobiografie veröffentlicht, die er zusammen mit der Journalistin Kristine McKenna verfasste. „Traumwelten“ heißt der Wälzer, der einige Überraschungen birgt.

Von Christian Fuchs

David Lynch macht surreal angehauchte Filme und Fernsehserien voller dunkler Mysterien. Er hasst es, über diese Geheimnisse zu reden, weil er Angst hat, sie zu entzaubern. Lynch hat einen seltsamen Humor, der sich durch viele seiner Werke zieht. Er malt auch, fotografiert, designt Möbel, komponiert Musik und hält künstlerische Kreativität für das höchste Gut auf Erden. David Lynch ist süchtig nach Kaffee und er praktiziert Transzendendale Meditation, was für mehr Kontroversen sorgt als seine mittlerweile heilig gesprochenen Kino-Meisterwerke. Und er sagt manchmal politisch uneindeutige Dinge, die Donald Trump unlängst als Lob missverstanden hat.

Der heute 72-jährige amerikanische Regisseur David Lynch gilt seit seinem Spielfilmdebüt „Eraserhead“, den er im Jahr 1976 realisierte, als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Filmemacher des Gegenwartskinos. Mit nur zehn Kinofilmen in 30 Jahren hat Lynch einen völlig eigenständigen, obsessiven und hochartifiziellen Kosmos an Bildern und Tönen entwickelt. „Twin Peaks: The Return“, seine Rückkehr zur eigenen Kultserie, hat im Vorjahr das Publikum verstört und Kritiker begeistert.

Dass alles weiß man eventuell über den mittlerweile 72-jährigen Regisseur, zumindest als eingefleischter Fan. „Traumwelten“, im Original „Room to Dream“, heißt nun die langerwartete authorisierte Autobiografie von David Lynch - und sie verspricht mehr über den Allroundkünstler zu verraten. Mehr Intimitäten, mehr Details, aber auch Klatsch und Tratsch aus dem Alltag eines höchst ungewöhnlichen Mannes. Verfasst hat Lynch das 700-seitige Buch zusammen mit der befreundeten Kristine McKenna.

Die Journalistin war aber nicht als klassische Ghostwriterin tätig. „Zuerst schrieb ich ein Kapitel, ziemlich herkömmlich, mit den biografischen Eckdaten dieser Periode in Davids Leben“, schildert Mckenna in der Einleitung. „Dazu interviewte ich mehr als hundert Menschen, Familienmitglieder, Freunde, Davids Ex-Frauen, und seine künstlerischen Weggefährten, darunter viele Schauspieler und Produzenten. Danach las sich David das Kapitel durch, korrigierte Fehler oder Ungenauigkeiten und schrieb dann seine Sicht der Dinge. Er verwendete also die Erinnerungen der anderen dazu, seine eigenen Erinnerungen loszutreten.“

David Lynch The Art Life

Polyfilm

Idylle Natur, urbane Abgründe

Auf Kristine McKennas genaue Chronik bestimmter Lebensabschnitte von David Lynch folgen also stets seine lakonischen Kommentare. Dabei erweist sich der Filmemacher, wie in seiner Kunst, als bewusst widersprüchlicher Charakter. Seine Mutter war ein Stadtmensch, sein Vater kam vom Land, die Begeisterung für die Natur und eine mythische Unschuld zieht sich ebenso durch sein Schaffen wie die Faszination für urbane Abgründe.

Kristine McKenna: „Wir leben in einem Reich der Gegensätze, an einem Ort, wo Gut und Böse, Geist und Materie, Glaube und Vernunft, unschuldige Liebe und fleischliche Lust in einem unsicheren Waffenstillstand nebeneinander existieren. Lynchs Arbeit bewegt sich in jenem komplizierten Bereich, wo das Schöne und das Verkommene miteinander kollidieren.“

David Lynch Traum Welten

Heyne Encore

„Traumwelten“ von David Lynch und Kristine McKenna ist in einer Übersetzung aus dem Amerikanischen von Robert Brack, Daniel Müller, Wulf Dorn und Stephan Glietsch bei Heyne Encore erschienen.

Im Laufe der Kapitel wird klar, dass David Lynch kein strenger Intellektueller im Stil von Bergman oder Tarkowski ist, aber auch kein Genre-Besessener wie Spielberg oder Lucas. Akademisch gebildet und doch unverblümt naiv, zutiefst spirituell und gleichzeitig verdammt bodenständig darf man ihn als Sonderfall bezeichnen. Definitiv hat Lynch mit dem Zitate-Rausch eines Tarantino nichts zu tun. Seine Inspiration kommt nicht aus anderen Filmen, sondern aus der Realität, aus einer malerischen Kindheit am Land und späteren grimmigen Großstadterfahrungen.

Wenn die Ideen rufen

„Traumwelten“ handelt aber nicht von einem Leidenskünstler nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts, der seine schmerzhaften Traumata verarbeitet. „Für mich sind die Ideen das Allerwichtigste“, notiert David Lynch. „Deine Idee sagt dir alles, was du wissen musst. Sie ist wie ein Samenkorn, in dem schon der ganze Baum steckt, aber noch unklar und abstrakt. Es ist aber wichtig, dass man diese Ursprungsidee den gesamten Arbeitsprozess hindurch nicht verrät.“

Wenn ihm die Ideen manchmal buchstäblich zufliegen, beim Meditieren, beim Spazieren, beim Kaffeetrinken in einem Diner, dann wird Lynch zum Spielball seiner Eingebungen, dann muss alles andere ruhen. Freundschaften, Familie und Beziehungen bedeuten dem Regisseur viel, aber Ideen und ihre Realisierung sind wichtiger.

Dieser Kampf zwischen dem getriebenen Künstler und dem Privatier hinterlässt Opfer. „Ich war für meine Kinder vielleicht nicht der beste Vater, weil ich nicht viel zu Hause war“, schreibt er an einer Stelle. Geheiratet hat Lynch trotzdem vier Mal, mit jeder Frau gab es ein gemeinsames Kind, oft hat sich der Vater aber schon bald nach der Geburt in Richtung eines Projekts verabschiedet. Oder auch einer Affaire zugewandt. Wenn man(n) das Wort „Womanizer“ heute überhaupt noch schreiben kann, dann trifft es auf den verschrobenen Typ mit dem angeblich unwiderstehlichen Lächeln zu, der schon am Schulhof ununterbrochen die Freundin wechselte.

David Lynch Traum Welten

Twin Peaks

Frauenheld und Pragmatiker

Kristine McKenna interviewt sämtliche seiner Partnerinnen, böses Blut taucht dabei aber nie auf, trotz mancher tragischer Reminiszenzen. „Er war ständig darauf bedacht, das Gleichgewicht zu halten, denn er wollte beide Seiten: einerseits eine knisternde Beziehung voller Spannung und Lust“, erzählt eine Kurzzeit-Geliebte, „andererseits den Komfort von Familie, Haus und Herd.“

Wenn das ausgesucht (spieß-)bürgerlich klingt, dann passt es aber natürlich zu der Dualität, die auf so vielen Seiten der Biografie im Zentrum steht. Die bourgeoise Idylle und ihre Abgründe erforscht der Filmemacher Lynch ja auch in „Blue Velvet“, „Lost Highway“ und natürlich „Twin Peaks“. Jedenfalls beschert einem als Leser das komplizierte Thema „David Keith Lynch und die Frauen“ ein paar der größten Überraschungen.

Womit man vielleicht auch nicht so gerechnet hat: Dass sich hinter dem verhuschten Exzentriker ein extremer Pragmatiker versteckt, der immer eine Lösung sucht. Ausgerechnet Lynch, der sein Buch „Room to Dream“ nennt, ist alles andere als ein Traumtänzer. Sondern einer, der den etlichen Hürden in seiner Arbeit - und die Biografie wirkt oft wie ein einziger Hindernisparcours - mit ungebrochenem Optimismus und Ausdauer begegnet.

David Lynch

Dean Hurley

Multitasker mit spezieller Energie

Beim Dreh von „Twin Peaks: The Return“, der das letzte Buchkapitel einnimmt, feiert er seinen 70. Geburtstag, arbeitet dabei meist über 12 Stunden täglich, schläft kaum, ist krank vor Erschöpfung. Aber die Geschichte der verwunschenen Stadt in den Wäldern muss eben fertig erzählt werden, auch wenn es kein richtiges Ende in einem Lynch-Epos gibt. „Ich hätte das unmöglich delegieren können“, schreibt Lynch über all die Aspekte der Produktion, „ich muss bei jedem einzelnen Schritt selbst Hand anlegen, nur so funktioniert das.“

Diese spezielle Energie, die den künstlerischen Multitasker antreibt, auch wenn seine Filme oft kommerzielle Misserfolge waren oder etliche Jahre zur Fertigstellung brauchten, überträgt sich tatsächlich auf den Leser, auch ohne TM-Kurs. Wer sich selber mit schwierigen Vorhaben herumschlägt, vielleicht sogar im künstlerischen Bereich, hat mit „Traumwelten“ definitiv ein Durchhaltebuch in der Hand.

Und dabei, das vermitteln sowohl Kristina McKenna als auch Maestro Lynch himself, geht es letztlich nicht um selbstzweckhaften Ehrgeiz, Eitelkeiten, Geld oder Ruhm. Die Sache steht im Mittelpunkt: Das Drehbuch, das nach Umsetzung schreit, das Bild, das es zu malen gilt, der Song, der aufgenommen werden will. Wenn die Ideen diktieren, heißt es zu folgen.

10 Dinge, die man in „Traumwelten“ auch erfährt:

  • In Boise, Idaho, wo David Lynch teilweise aufwuchs, ließen er und seine Schulfreunde gerne Rohrbomben explodieren. „Kinder genossen damals viele Freiheiten“, schreibt er dazu.
  • Politik interessierte Lynch nie, er kapselte sich sogar als Student im Umbruchsjahr 1968 in seiner Kunstblase von den sozialen Umständen ab.
  • Der Regisseur betreibt seit 1973 die umstrittene Transzendendale Meditation. Für den Guru Maharishi, dem auch das Buch gewidmet ist, absolvierte er unzählige Vortragsreisen und gründete die David Lynch Foundation, die die TM-Botschaft ("Erleuchtung für das Individuum, Friede für die Welt) überall verbreiten möchte.
  • Anthony Hopkins mobbte den damals noch jungen Regisseur David Lynch am Set von „The Elephant Man“ und wollte ihr feuern lassen.
  • Bei einer Oscarparty, Lynch war für „Blue Velvet“ nominiert, wurde er von Elizabeth Taylor mitten in einem Lokal leidenschaftlich geküsst.
  • Marlon Brando besuchte Lynch öfter spontan in seinem Haus, was ihn schrecklich nervös machte vor Ehrfurcht, manchmal trug der Altstar auch Frauenkleider und improvisierte darin Rollen.
  • Lynch verleiht seinen Freunden gerne kindische Spitznamen und redet Schauspieler oft nur mit ihrem Rollennamen an.
  • Als Michael Jackson mit Lynch einen Werbespot für ein Album drehte, ließ er sich dafür acht Stunden schminken – der Dreh dauerte dann nur ein paar Minuten.
  • Für den Dreh zu „Eraserhead“ brauchte Lynch echte Nabelschnüre und ließ in Krankenhäusern anfragen.
  • Lynch sammelt Zahnarztwerkzeuge und pflegt sie pingelig.

mehr Film:

Aktuell: