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Brooklyn

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Buch

„Ein anderes Brooklyn“

Ein eindringlich poetisches Gesellschaftsporträt erzählt vom Brooklyn der 1970er-Jahre aus der Sicht eines jungen schwarzen Mädchens.

Von Gersin Livia Paya

Während die einen in Manhattan Partys feiern, kämpfen sich die anderen im nicht weit entfernten Brooklyn durchs Leben. Heute ist es schier unvorstellbar, dass in Brooklyn nicht ein hippes Superfood-Restaurant auf das nächste Café mit Koffeinfreier Soja-Milch-Auswahl folgt und die Straßen aussehen, als würde man eine Vogue-Ausgabe durchblättern. Jetzt ziehen die Mietpreise dicke Konten an - eigentlich unvorstellbar, wenn man Jacqueline Woodsons Erinnerungen an „ein anderes Brooklyn“ liest. Darin erzählt sie durch den Blick der großen Kinderaugen der Protagonistin August eindrucksvoll von einer Zeit bevor Brooklyn zum angesagten Trendviertel wurde.

Ein andrees Brooklyn

Piper

Jacqueline Woodson „Ein anderes Brooklyn“ ist in einer Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit im Piper Verlag erschienen.

„Wenn wir Jazz gehabt hätten, wäre unser Leben dann anders verlaufen? Wenn wir gewusst hätten, dass unsere Geschichte ein Blues mit einem Refrain ist, der immer wiederkehrt, hätten wir dann aufgehorcht und gesagt: Das ist Erinnerung, immer wieder, bis das Leben einen Sinn ergab? Wo wären wir heute, wenn wir gewusst hätten, dass unser Wirren einer Melodie folgte? Denn obwohl Sylvia, Angela, Gigi und ich wie eine Jazzimpro zusammenkamen – halbe Noten, die sich zögernd aufeinander zubewegten, bis die Band ihren Sound fand und die Musik klang, als wäre sie schon immer da gewesen –, hatten wir keinen Jazz, der uns zeigte, wer wir waren. Wir hatten die Hits der 1970er, die unsere Geschichte erzählen wollten. Aber sie schafften es nie so ganz.“

Die in Amerika geborene Autorin Jacqueline Woodson wurde 2018 mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet, der weltweit höchstdotierten Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur. „Ein enderes Brooklyn“ ist dabei eigentlich ihr erster Roman für Erwachsene. Der sehr poetische Geschichtsunterricht, der selbst auch irgendwie ein Jazz-Album sein könnte, lässt einen die Bilder so klar sehen als wäre es die eigene Erinnerung.

„Ich hob den Kopf, betrachtete die sich färbenden Blätter und dachte, dass wir alle irgendwann heimkehren. Irgendwann wurde das ganze Leben, alles und jeder, Erinnerung.“

Jacqueline Woodson lässt uns mit ihren wechselhaften Erinnerungen ins Leben von August eintauschen. In ihre Kindheit im New York der 1970er-Jahre, ihre Freundschaft zu Angela, Gigi und Sylvia, in ihre Pubertät und die teils tragische Metamorphose zum Erwachsenwerden. All das erlebt sie zwischen Armut, Zukunftsträumen und Rassismus aus der Sicht eines schwarzen Mädchens.

August zog mit ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder in Brooklyn, nachdem sie eine schöne Kindheit mit beiden Eltern in Tennessee verbracht hatte. Die Mutter blieb bei diesem Umzug zurück. Über das „Warum“ kann man nur spekulieren, die Erzählerin scheint viele Erinnerung daran zu verdrängen.

Die drei wohnen in einer heruntergekommenen Wohnung in einer Nachbarschaft, die aus Drogendealern, Prostituierten, Kriegsveteranen und jeder Menge unbeaufsichtigten Kindern besteht. Während der Vater arbeiten geht und versucht, seine Familie vor dem sozialen Aus zu bewahren, lernt August ihre drei Freundinnen kennen, die sich gegenseitig beschützen und künftig unzertrennbar diesem Leben trotzen.

„Wir waren vier Mädchen, unglaublich schön und schrecklich allein.“

Wilde, gefährliche und schrecklich schöne Erinnerungsbilder werden in knappen Sätzen, so authentisch wie Erinnerungen eben sind, erzählt. Jacqueline Woodson ist es gelungen an das zu erinnern, was sich sonst nicht dokumentieren lässt. In ‚Ein anderes Brooklyn‘ schafft sie Bilder, die klingen und bleiben.

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