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Charlotte Gainsbourg

OFF Festival

Ein Festival für Leute, die keine Festivals mögen

Ich liebe sie zwar alle, trotzdem ist ein Wochenende am Off Festival in Polen jedes Jahr etwas ganz Besonderes.

Von Susi Ondrušová

Was einmal vor 9 Jahren mein erster Ausflug zu diesem, vom polnischen Musiker Artur Rojek kuratierten und für Pitchfork-Musikfans interessanten Festival hätte sein sollen, hat nicht stattgefunden. Denn die vier Stunden Zugfahrt mit dieser lästigen Grippe, die mich 48 Stunden vorher ereilte, waren einfach nicht möglich, und ich musste damals schweren Herzens ein Interview mit dieser kleinen Band namens Frightened Rabbit absagen.

So ist das Off Festival ein Sehnsuchtsort geworden für große Konzertentdeckungen und für Musikliebhaber, die wegen der Musik auf Festivals gehen und Genre-Vielfalt genauso zu schätzen wissen wie die Tradition, dass Becher in den dafür vorgesehenen Müllcontainer gehören. Musik der Musik wegen feiern und nicht wegen des Alkohols also.

Damals, 2009, hat das Festival noch in der Heimatstadt vom Festival-Boss Artur Rojek stattgefunden, ein Jahr später ist es umgesiedelt, und nun pilgern seit 2010 an die 10.000 musikbegeisterte Menschen nach Katowice zur „Dolina Trzech Stawów“, einem Parkareal am Stadtrand der schlesischen Industriestadt. Nach dem ersten Nicht-Ausflug war ich in den letzten neun Jahren fünf Mal hier. Ich habe große Shows von Jesus & The Mary Chain gesehen, My Bloody Valentine oder Primal Scream.

Ein Interview mit Devendra Banhart vor ein paar Jahren brachte die Stimmung des Festivals auf den Punkt: Devendra Banhart hatte am Off Festival auch einmal gespielt, und als ich ihn Monate nach seinem Auftritt nach einem speziellen, selbst für Banhart-Verhältnisse superlangsamen und leisen Song frage, erzählt er vom Off Festival und einem Publikum, das stiller als jedes Vakuum der Performance von einem anscheinend „schwierigen“ Song zugehört hat und beim letzten Ton in euphorisches Klatschen verfallen ist. So sind die Festivalbesucher hier nämlich: aufmerksam, aber nicht zu schüchtern, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Was gestern auch Moses Sumney am eigenen Leib erlebt hat. Als es zu regnen begann, suchten die Festivalbesucherinnen bei seinem Konzert im Zelt Unterschlupf. Sie blieben und sangen mit, fingen mitten im Lied an zu klatschen. Mitgenommen und berührt waren die Menschen vor der Bühne genauso wie er als Musiker auf der Bühne.

Das Festival lebt von einem roten Faden, der sich in der Programmierung zum Beispiel durch Kuratoren wie Ariel Pink auszeichnet, der am Off Festival die „Experimental Stage“ am letzten Festival-Tag gestalten darf. Neben zwei überdachten Bühnen gibt es auch noch die große Hauptbühne und eine „Waldbühne“, wo gestern die norwegische Musikerin Aurora das Publikum um den kleinen Finger wickelte und zum Teil ihres „Queendoms“ machte. Es war so gut, fast schon kitschig, auf einer der beiden großen Weiden vor der Festivalbühne der barfüßigen Aurora beim Singen zuzuschauen. Wer nicht mitgetanzt hat, hat sein Herz noch nicht gefunden.

Viel ist schon gesagt und nachgedacht worden über die Ausgewogenheit von männlichen und weiblichen Acts auf europäischen Festivals. Sichtbarkeit ist alles und nur das zählt. Nicht aus Mitleid oder aus Zwang, sondern wegen der Vielfalt und der Perspektive. Natürlich sind hier auch Turbonegro abgefeiert worden oder Trail of Dead, die ihr 2002er-Meisterwerk in voller Länge gespielt haben, aber es sind die Musikerinnen wie Aurora und Charlotte Gainsbourg, die dem gestrigen Festivaltag den Stempel „unvergesslich“ verpasst haben, eine Eleganz und einen Zusammenhalt mit ihren Bandkollegen und dem Publikum zelebriert haben, der erfrischend und inspirierend war.

Eine Scheibe in Sachen Performance hätte sich M.I.A. von ihnen abschneiden können, die am ersten Festivaltag als Headlinerin die Menschenmasse hätte unterhalten sollen und ein sehr lustloses Set gespielt hat. Wer hier her kommt, um sich nur wegen dem Namen und dem späten Slot feiern zu lassen, wird die Fans (nämlich auch die in den hinteren Reihen) nicht auf seine Seite ziehen. Festivalgigs sind Arbeit, egal wie viele Hits und Hooks der Computer dabei abspielt. So hat ihr mit Spannung erwartetet Auftritt an einen Karaokebesuch erinnert, den man nur absolviert, weil man eine Wette verloren hat. Und das ist für eine Künstlerin wie M.I.A. einfach zu wenig. Rants über Plastikflaschen auf der Bühne, obwohl man doch seit drei Jahren Glasflaschen am Rider stehen hat, oder Ansprachen mit „Hello Polands“, eine Anekdote, die irgendwie daran erinnern sollte, dass sie sowas wie Facebook erfunden hat (???), lassen einen sprachlos zurück. Dann schon lieber gar nichts sagen so wie Brian Jonestown Massacre, die vor M.I.A. aufgetreten sind.

Eine Festivalbesucherin aus London, die extra wegen M.I.A. angereist ist, hat sich von dem nicht beirren lassen und weitergetanzt. Jene, die zum ersten Mal hier sind, wollen unbedingt wiederkommen. Das Lineup ist nicht so erwartbar wie bei anderen großen Festivals, die Stimmung ist entspannt und die Wege kurz, das Gelände überschaubar. So viele erfüllte Festivalträume, da werden doch skeptische Menschen stutzig, also frage ich das Publikum, was sie gerne am Off Festival verändern würden: „If you could control the weather, that would be great“, sagt die Londonerin. Andere meinen, mehr Schutz vor Sonne und Regen wären gut. Ein Besucher aus Warschau meint, das Off Festival habe keine Probleme, es könne ruhig so bleiben, wie es ist.

Zu sehr später Stunde, als es darum geht, sich zu überlegen, wie gut man sein Geld in Bands und Konzerte investieren kann, und welche Verschwendung es wäre, nur am Campingplatz abzuhängen, trifft meine kleine Reisegruppe, die sich unter der Weide versammelt hat, auf drei polnische Festivalbesucher, einer von ihnen ist auf der Suche nach Zigaretten. Aufs Festival ist er wegen Grizzly Bear gekommen. Er liebt die Band wie seine Eltern. Sein Freund ist einer der ersten Gäste im Ganzkörper-Tierkostüm, die uns hier über den Weg laufen. Ein üblicher Anblick auf österreichischen Festivals, aber recht selten hier. Unser neuer Freund im Kostüm will gerade sagen, was er sich fürs Off Festival wünscht, und seinen Satz mit „toilet paper“ beginnen, als es plötzlich neben uns knallt. Am Boden liegt eine lachende Festivalbesucherin mit Jägermeister-Regenponcho und zwei riesige Äste, die vom Weidenbaum abgebrochen sind. Sie scheint nicht verletzt, versucht ihren Lachkrampf unter Kontrolle zu bekommen und sich von den Blättern und Ästen zu befreien. Während wir also aufatmen und rätseln, wie das passieren konnte, meinen unsere neuen Freunde: „The funniest thing is we are doctors!“ und eilen zur gestürzten Besucherin. Als ihre Lachmuskeln sich entspannen, erklärt sie ihren Lianen-Gymnastik-Fail mit den Worten: „I am Tarzan!“ Die polnischen Freunde versammeln sich für ein Gruppenfoto. Eine sehr gute Erinnerung an einen sehr guten Festivalabend, wo sich Ekstase, Eskapismus und die Liebe zur Musik und zum gesungenem Wort in einem gesunden Gleichklang befinden.

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