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Dirty Dancing

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FILM

Ein Abend mit Johnny & Baby

In der aktuellen FM4 Sommerserie „Das erste Mal“ stellen sich Filmredakteure endlich jenen berühmten oder vieldiskutierten Streifen, die sie bislang immer verpasst haben. Manchmal auch ganz bewusst. Diesmal steht für Christian Fuchs „Dirty Dancing“ aus dem Jahr 1987 auf dem Programm.

Von Christian Fuchs

Alle haben den Film natürlich schon gesehen. Wirklich alle. Auch meine cinephile Freundesrunde, die ich zur Verstärkung ins Heimkino eingeladen habe, um mich endlich diesem Werk zu stellen, kommentiert bereits den Vorspann wissend. Nur ich bin „Dirty Dancing“ immer ausgewichen, kenne nicht einmal den Trailer oder einen längeren Ausschnitt daraus.

Sorry, aber als der Hype um diese ikonisch gewordene Leinwand-Seifenoper explodierte, in den späten 80er Jahren, verehrte ich Sonic Youth, entdeckte gerade Slayer, las Erotikhorror-Bücher und liebte vor allem blutige Splattermovies. Für Johnny und Baby und einen Schmachtfetzen mit vermeintlichem Kuschelpop-Soundtrack war da gar kein Platz.

Später, als „Dirty Dancing“ dann mit jeder neuen Retro-Welle wieder in Kino-Spezialvorstellungen und im Kabelprogramm auftauchte, interessierte mich der Film noch weniger. Die fiebrige Nostalgiestimmung, die er vor allem bei Frauen bestimmter Generationen auslöste, erschien mir als ähnliche Verwirrung wie die Chuck-Norris-Begeisterung vieler Actionfilm-Fanboys.

Dirty Dancing Szenenbild

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Klassenkampf-Drama in Bubblegum-Verpackung

Als letzte Woche dann die Anfangssequenz über meine Beamer-Leinwand flimmert, bin ich aber ganz und gar nicht mehr negativ gestimmt. Zum einen ist es einfach ein ganz spezielles Gefühl, einen der heiß verehrtesten Filme aller Zeiten zum ersten Mal zu erleben. Und andererseits hat sich mein Blickwinkel gänzlich verändert, mittlerweile bemühe ich mich, sämtliche Vorurteile, die sich über gewisse Streifen oder Genres über Jahrzehnte angehäuft haben, zu ignorieren. Denn nur so erlebt man kleine filmische Wunder.

„Dirty Dancing“ sorgt zumindest für einige echte Überraschungen. Der prototypische 80ies Film spielt tatsächlich im heißen Sommer des Jahres 1963. Unglaublich lässige Musik untermalt die bittersüße Romanze, die sich vorsichtig ankündigt, von „Be My Baby“ der Ronettes über „Will You Love Me Tomorrow“ der Shirelles bis zu „Love Is Strange“ von Mickey & Sylvia, ein Lied, das auch im besten Film aller Zeiten, in „Badlands“ von Terrence Malick, vorkommt. Dieser extrem coole Girlgroup-Pop und Soul, der sich großteils dem Ausnahmeproduzenten Phil Spector verdankt, dominiert zumindest die erste Filmhälfte.

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Und dann, noch ein Moment der Verblüffung: „Dirty Dancing“ ist keine sülzige Mainstream-Schnulze, die von einem Hollywood-Megastudio produziert wurde. Sondern ein kleiner Indiefilm, der zu einem Riesenhit wurde, vor allem am Anfang wird das ästhetisch sehr deutlich. Inhaltlich geht es noch erstaunlicher zu. Regisseur Emile Ardolino, der seine Homosexualität auch zu einer Zeit auslebte, als das noch nicht gängig war, inszenierte ein echtes Klassenkampf-Drama, verpackt in Bubblegum-Pop.

In einem Ferienresort für wohlsituierte Mittelstandsbürger arbeiten Unterschicht-Kids als Tänzer und Animateure. Die clevere, aber etwas unscheinbare 17-jährige Frances „Baby“ Houseman, Tochter aus einer reichen Arztfamilie, scheint vom schönen Outlaw Johnny fasziniert, der im schwarzen Rockabilly-Outfit im Camp herumgockelt. Hinter der rebellischen Fassade steckt allerdings ein von Selbstzweifeln zerissener Hacklerbub, der für seinen Unterhalt tanzend schwitzt. Upperclass versus Working-Class, das ist ein Schlüsselthema in diesem Film, stimmen mir meine Freunde bei.

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Fast wie in „Twin Peaks“

Sogar ich weiß natürlich: Jennifer Grey und Patrick Swayze kommen irgendwann zusammen. Bis es soweit ist, demonstriert Johnny der jungen Frau, die sie Baby nennen, aber komplizierte Tanzfiguren. Die beiden müssen einen wichtigen Auftritt absolvieren, bei dem Johnnys eigentliche Tanzpartnerin nicht teilnehmen kann. Denn, Schock: Am Tag des Wettbewerbs lässt das White-Trash-Girl einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Wie tabubefreit der Film mit dem Thema Abtreibung umgeht, das gab es nur im Achtziger-Kino.

Apropos 80ies: Irgendwann morpht „Dirty Dancing“ von den über jeden Zweifel erhabenen 60ies in die diskutierbaren Bereiche der 80er, Frisuren, Kleidung und vor allem der Sound verändern sich. Der Rock’n’Roll-Spirit weicht den Kitschhits mit Musicalflair, die den Film so berühmt machten.

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In der FM4 Sommerserie Das erste Mal stellen sich Filmredakteure endlich jenen berühmten oder vieldiskutierten Streifen, die sie bislang immer verpasst haben.

Macht das meinen durchaus positiven Eindruck zunichte? Nein, denn dieser Stilmix aus beiden Dekaden, der stellenweise bizarre Züge annimmt, erinnert mich plötzlich an die magische Serie „Twin Peaks“. Überhaupt, ganz große Gefühle, Schmalzlocken, Lederjacken, blonde Mädchen mit Sehnsuchtsblicken und keine entzaubernde Ironie in Sicht: „Dirty Dancing“ könnte stellenweise sogar ein Film von David Lynch sein, auch wenn dessen Trademark-Horroreinschlag natürlich fehlt. Damit habe ich nicht gerechnet. Hey, sage ich zu meinen Freunden beim Finale, ich habe zwar nicht the time of my life, aber eine ziemlich gute Zeit mit Johnny und Baby.

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