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Menschen am People Festival

Maria Motter

Die Heile Welt im Sitzkreis

Justin „Bon Iver“ Vernon und Aaron Dessner laden 160 Freunde ins einstige DDR-Funkhaus. Das Festival „People“ trat an, ein Gegenentwurf zu Fame-Space-Festivals zu sein. Es war idyllisch und schön.

Von Maria Motter

Leslie Feist, Damien Rice und Justin Vernon aka Bon Iver haben eine sehr gute Zeit. Seit zwei Wochen eignen sie sich das teils denkmalgeschützte Funkhaus Nalepastraße in Berlin an, das zu DDR-Zeiten die Zentrale des Rundfunks gewesen ist. Gemeinsam mit den Gebrüdern Aaron Dessner und Bryce Dessner, die sonst hauptberuflich in der Band The National tätig sind, und mit Unterstützung der Berliner Hoteliers und Musikliebhaber Michelberger hat Justin Vernon 160 Freunde und Wegbegleiter zum People geladen: Ein Wochenende, an dem es um neue Songs, Zusammenarbeit und einzigartige Arrangements gehen soll und an dem Grenzen aufgelöst werden wollen.

Davor: Popkultur-Festival

Vor dem People ist in Berlin das Pop-Kultur Festival über die Bühne gegangen - es präsentiert mit dem sagenhaften Budget von einer Million Euro in der Kulturbrauerei neue Acts und Auftragswerke etablierter Künstler. Perfekt getaktete Showcases in mehreren Räumlichkeiten. Das People konnte man als Gegenentwurf dazu verstehen.

Bei Pop-Kultur trat u.a. Neneh Cherry auf. Mir war ihr Auftritt aber gar zu selbstverliebte Lounge-Musik. Also lieber in den Gewölbekeller der Kulturbrauerei zur Technoproduzentin Karen Gwyer. Nichts anfassen unten, lautete die Anweisung, bevor es viele Treppenstufen ins Unterirdische ging. Unten ist mir die eigentlich verkeilte Brandschutztüre plötzlich gegen die Hüfte geknallt. Karen Gwyer erklärte, sie könne nicht sechzig Leute zuhause empfangen, darum hat sie die Kellerräumlichkeiten mit kleinen Möbelgruppen ausgestattet und schaltet reihum die Gerätschaften ein. Das war eine intime Einstimmung auf das „People“, die Schmerzen allerdings auch nicht ohne. Darum ein Tag Musikpause, bevor es dann zum „People“ ging.

120 Euro kostet der Wochenend-Pass. Die MusikerInnen bekommen keine Honorare, sondern die gesamten Einnahmen durch die Ticketverkäufe gehen in die Produktion des Festivals. Als FestivalbesucherIn bekommt man mit dem Armband eine Gruppennummer zugeteilt – mit dieser Gruppe hat man bestimmte Zeitslots. Welche Musikerinnen man schlussendlich sehen wird, erfährt man nicht. Denn es gibt kein Line-Up, dafür eine Liste aller beteiligten MusikerInnen und ein eigenes Streaming Service vorab mit Tracks und Songs der Beteiligten.

Menschen am People Festival

Maria Motter

Efterklang spielten mit Freunden wie Zach Condon neue Efterklang-Songs und sangen mit dem Publikum einen poetischen Vierzeiler

People schreibt sich in Großbuchstaben, ein Regenbogen ziert das Logo am Eingang zum Areal. In der Ferne, über das Wasser und über Schwäne blickend, sieht man das stillstehende Riesenrad des Spreeparks. Im Garten auf der sehr kleinen Bühne im Freien gesellt sich gerade Zach Condon, den man für Beirut liebt, zu den dänischen Freunden von Efterklang. Im Hintergrund stehen hohe Bäume dicht an dicht, vor der Bühne Hunderte FestivalbesucherInnen. Verlockend, jetzt hier zu bleiben und zu hören, was das wird! Aber der Einlass zur nächsten Session beginnt gleich!

Ein Idyll, wenn du willst

Der Einlass zu den Funkhaussälen und Studioräumlichkeiten erfolgt gestaffelt. Das People hat viel von einem Heiligen Abend für Erwachsene: Alle sind insgeheim schon ziemlich aufgeregt, wollen das aber nicht zugeben. Kriege ich das, was ich mir gewünscht habe? Darf ich mir überhaupt was wünschen, wo das Konzept doch ein bisschen der bedingungslosen Huldigung Einzelner entgegenwirken möchte?

Wenn das Publikum den Saal betritt, sind die MusikerInnen schon da. Erlend Øye, Justin Vernon, Sam Amidon und Damien Rice zum Beispiel. Oder Leslie Feist und Alexi Murdoch und Jenny Lewis und ein in New York lebendes australisches Duo. Reihum spielt jede/r einen Song. Und wird vom Publikum gefeiert. Nach der ersten Session ist klar: Abgeklärt ist hier niemand. People hat das aufmerksamste Publikum, das ich je auf einem Musikfestival (Klassikkonzerte ausgenommen) erleben durfte. Diszipliniert gruppieren sich alle zu Beginn jeder Session um die MusikerInnen im Sesselkreis. Wie frenetisch dann jemand für gerade mal einen Song gefeiert werden, legt die Euphorie offen, die diese Musikschaffenden wohl seit Jahren in den Anwesenden auszulösen vermochten.

Menschen am People Festival

Maria Motter

Australisches Duo, Jenny Lewis, Alexi Murdoch und Leslie Feist im Folk Circle

„Unique“ und „new“ wie angekündigt, gar in den letzten Wochen im Funkhaus Nalepastraße entstanden ist sehr wenig des Dargebotenen. Was immer die versammelten MusikerInnen in den vergangenen Wochen komponiert, geprobt und aufgenommen haben mögen, viel davon war nicht zu hören. Die meisten vermeintlich exklusiven Songs haben sie schon hier und dort als besonderen Ausreißer in einem Konzert gespielt. So covert Justin Vernon „Unchained“, sein liebstes Lied von Johnny Cash. Viele andere spielen ihre eigenen alten Lieblinge. Das ist alles superschön, mit großer Hingabe und innig vorgetragen. Wie sich binnen Sekunden in diesen hohen Sälen in diesem massiven Gebäude eine Lagerfeueratmosphäre einstellt, ist der eigentliche Zauber von People. „It’s okay to be boring sometimes“, sagt ein Besucher zu seinen Freunden. Beste Erkenntnis.

Wen werden wir sehen?

Die Sessions werden nicht für jede Publikumsgruppe wiederholt. Je nach Gruppe erlebt man etwas anderes. Und viele der KünstlerInnen sind am Festival unterwegs wie BesucherInnen. Das Festival ist werbefrei. Auf dem Gelände gibt es Pizza, Handbrot, vegane Donuts und gutes Eis, bezahlt wird per Chip. Kurt Lambchop Wagner stellt sich gerade an. Mit seiner roten Kappe ist er stets so leicht auszumachen wie Niki Lauda. Doch all die anderen? Es gibt hervorragende Apps für Sternbilder, die abends an der Spree vorhandenes Wissen nur bestätigen, aber die Gesichtserkennung von MusikerInnen bleibt einem zum Glück noch selbst überlassen. Das führt dazu, dass eine Sängerin und Gitarristin das Wochenende hindurch unter dem Namen „Nicht-Feist“ geführt wird. Von der Seite hat sie große Ähnlichkeit mit Feist. Wie etliche Auftretende stellt sie nur ihre KollegInnen im Folk Circle vor – niemand jedoch sie. Wer sie ist, bleibt eine Suchanfrage für die Tage nach dem Festival.

Menschen am People Festival

Maria Motter

Im Studio, das normalerweise Nils Frahm gehört, spielt ein Cellist, dessen Name noch zu ergoogeln ist

Die echte Feist ist aber auch da – wie viele andere bekannte Namen: Justin Vernon und die Dessners haben einen recht homogenen Freundeskreis aus Singersongwritern, die nicht mehr jung, aber noch nicht alt sind. Astronautalis hat sich im Studio von Nils Frahm mit einem Cellisten zusammengefunden. Der Cellist bearbeitet sein Instrument mit einer Schleifmaschine, dazu ein Rap-Mantra von Astronautalis, der auf Instagram die Welt wunderschön einfängt, aber zwischendurch auch ein Model für die US-amerikanische National Rifle Association sein könnte.

Richard Reed Parry von Arcade Fire sehe ich nur einmal von Weitem, andere Besucherinnen sehen ihn mit Nick Zinner und anderen mit einer „Art mild-elektronischem Gospel-Folk“. Abends dafür wird Nick Zinner lauter drehen: mit ihm auf der Bühne und unter anderem drei Schlagwerken wird da eine Band-Maschine angeworfen, die all dem Folk-Indie Curfew erteilt. Kurz zuvor hatte Boys Noize in der Ecke der großen Halle eine kleinere Menschenmenge zum Tanzen gebracht.

Zelebrierte Special Moments

Besonders zelebriert wurden manche Momente. Leonard Cohens Sohn Adam Cohen etwa erzählt, wie er mit einem Journalisten nach den letzten, öffentlichen Worten seines Vaters gesucht hat. Wie meist alle an den Lippen seines Vaters hingen, dieser aber gern seine Bedeutung herunterspielte: Man solle ihm nicht zuhören, lieber solle man einem Kolibri zuhören oder einem Schmetterling. Im Funkhaus ist nun aus einer kurzen Tonaufnahme der letzten Pressekonferenz von Cohen Vater ein Track geworden, den spielt Adam Cohen im großen Saal vor.

Menschen am People Festival

Maria Motter

Das „People“ hat eine Festivalzeitung und darin finden sich eine Liste mit 50 Punkten für einen wenig beglückenden Festivalbesuch: „36. Apologize to seated fans for dancing. 37. Sit and stare at the lead singer. 38. Pay $8 for an item of food.“

Meine persönliche Entdeckung des People Wochenendes ist allerdings eine leider schon verstorbene Person. Viele MusikerInnen haben festgesellt, dass sie alle FreundInnen der US-amerikanisch-mexikanischen Sängerin und Komponistin Lhasa de Sela waren. Das erklärt eine Frau im Foyer, als sich wieder einmal der Einlass verzögert (mich stören eher die Entschuldigungsgründe – alles würde so special, da dauere die Vorbereitung länger…). In der Session spielen dann Mélissa Laveaux, Leslie Feist und Freundinnen Songs von Lhasa de Sela, die 2010 als 38-Jährige an Brustkrebs verstorben ist. „Is anything wrong? Oh love, is anything right?“

Nur abends zum People zu gehen, das hätte sich nicht groß gelohnt. Auch wenn Samstagabend ein Konzert der jungen Formation Big Red Machine anstand. Um es mit Erlend Øyes Schmäh zu sagen: „Some fresh new talents“ sind das, der Vernon Justin und der Dessner Aaron. Mag man Justin Vernons Stimme, wird man auch hier weiter frohgesinnt sein, den Kopf nur ein bisschen weniger verträumt schief neigen.

Angetreten ist das People mit dem Konzept, nicht hierarchisch ein Festival auszurichten, bei dem alle Aufmerksamkeit auf die Musik gerichtet wird. „We experience the process, beyond names and expectations“. Eine hehre Idee, die in der Umsetzung ein bezauberndes Wochenende für all jene wurde, die es einmal nicht eilig hatten und akustische Sessions lieben.

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