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Britain' s Secretary of State for Exiting the European Union (Brexit Minister) Dominic Raab delivers his speech outlining the government' s plans for a no- deal Brexit

PETER NICHOLLS / POOL / AFP

ROBERT ROTIFER

Sandwich of Doom

Die „technischen Notizen“ der britischen Regierung skizzieren die horrenden Konsequenzen eines britischen Klippensturzes aus der EU - vom Ausbleiben dänischer Samenspenden bis hin zum Erasmus-Programm. Und sind dabei trotzdem noch viel zu optimistisch.

Von Robert Rotifer

Ich muss zugeben, ich hab geschummelt. Als es darum ging, herauszufinden, was ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU alles mit sich bringen könnte, hab ich mir im Herbst 2016 das Buch „Brexit – What the hell happens now?“ von Ian Dunt gekauft. Darin wurden einige Szenarten aufgelistet, und das jeweils Allerschlimmste davon entspricht so ungefähr dem, was die britische Regierung gestern in ihrer ersten Ladung an sogenannten technischen Notizen für den Fall eines No-Deal-Brexit veröffentlicht hat.

Kein dänisches Sperma, keine britische Bio-Marmelade...

Plus ein paar Dinge, an die Dunt damals nicht gedacht hat – wie zum Beispiel das Problem, dass von Großbritannien in großen Mengen importierte Samenspenden aus Dänemark in Zukunft nicht mehr zulässig sein werden. Was, falls sich wer fragt, inzwischen bereits The Sun zu einem charakteristisch superwitzigen Aufruf an männliche Briten inspiriert hat, nach dem Brexit selbst für genügend Sperma für ihr Land zu sorgen, harharhar, Schenkelklopf (es gibt einen ernsthaften Hintergrund, der mit dem Recht, mit britischen Samenspenden gezeugter Kinder zu tun hat, die Identität ihres biologischen Vaters zu erfahren, aber das interessiert dann schon wieder niemand mehr...).

Mein Punkt ist jedenfalls, dass all das, was jetzt in den Regierungspapieren angesprochen wird, eigentlich schon mindestens vor zwei Jahren zu wissen war. Wenn diese Fakten der über die Leser_innen von Fachliteratur hinausgehenden Bevölkerung jetzt, wo es eigentlich längst zu spät ist, als Neuigkeiten erscheinen, dann liegt das am Versagen sowohl der Opposition als auch der Medien in ihrer Aufgabe, die Regierung bei unzähligen Gelegenheiten – einschließlich eines ganzen, verdammten Unterhauswahlkampfs – damit zu konfrontieren.

Ohne die Eiertaktik der Labour Party und die Faulheit meiner Zunft hätte Theresa May mit der (schon syntaktisch höchst dubiosen) Parole „No Deal Is Better Than A Bad Deal“ nie durchkommen können.

Gestern also, ziemlich genau sieben Monate vor dem Brexit-Stichtag, präsentierte der dem Austrittsminister David Davis nachgefolgte Erz-Brexiteer Dominic Raab mit Schweiß auf der Stirn 25 von insgesamt 80 geplanten Dokumenten zu bisher 10 Themen-Bereichen. (Werden die anderen 55 eigentlich erst geschrieben, oder wär alles auf einmal nicht spannend genug gewesen?)

Seine bis vor kurzem noch besten Freunde an König Arthurs Tafelrunde der Brextremist_innen witterten vorhersehbar sogleich das mysteriöse „Project Fear“, als Schatzkanzler Philip Hammond kurz darauf hinzufügte, dass die von seinem Kollegen ausgeführten No-Deal-Szenarien an die 80 Milliarden Pfund (jetzt eh nur mehr 88,7 Milliarden Euro) kosten würden.

Dabei fällt dem jenseits der eigenen existenziellen Bedrohung um Neutralität bemühten Betrachter beim stichprobenartigen Durchlesen der an Details immer noch ziemlich dünnbrüstigen „technischen Notizen“ vor allem deren – im Widerspruch zu ihrer düsteren Prämisse stehender – unerschütterlicher Optimismus auf.

Britain' s Secretary of State for Exiting the European Union (Brexit Minister) Dominic Raab delivers his speech outlining the government' s plans for a no- deal Brexit

PETER NICHOLLS / POOL / AFP

Dominic Raab

Jedes einzelne der Papiere, vom Zugang zu EU-Förderungen über Nuklearforschung, Landwirtschaft, Import/Export, Produktklassifizierungen, Steuer- und Finanzangelegenheiten, die Regulierung von Arzneimitteln und medizinischen Geräten, staatliche Beihilfen, Arbeitsrecht, bis hin zum Studieren im UK und der EU, beginnt mit dem beschwichtigenden Absatz: „Ein Szenario, bei dem das Vereinigte Königreich die EU ohne Abkommen verlässt, bleibt unwahrscheinlich angesichts der gegenseitigen Interessen des UK und der EU an der Sicherung eines Verhandlungsergebnisses.“

Das steht für sich bereits in direktem Widerspruch zur jüngsten Aussage des Brexit-fanatischen Ministers für internationalen Handel Liam Fox, wonach die Wahrscheinlichkeit von „No Deal“ derzeit bei 60:40 liege. Aber selbst in diesem Fall gamblet die Regierung in ihren Vorhersagen erst recht auf den guten Willen der anderen Seite.

So bräuchte es etwa bis zu neun Monate, britische Bio-Produkte in der EU neu anerkennen zu lassen, was den gesamten Export der britischen Bio-Landwirtschaft auf einen Schlag vernichten würde. Daher, so die Regierung, arbeite man an „alternativen Zugängen, um diesen Prozess zu beschleunigen.“ Wie beruhigend konkret.

Was wiederum das internationale Studienprogramm Erasmus anlangt, würde man, „falls Diskussionen mit der Kommission zur Sicherstellung der weiterbestehenden Berechtigung zur Teilnahme von UK-Organisationen an dem Programm erfolglos sein sollten, sich bei Mitgliederstaaten und Schlüsselorganisationen dafür einsetzen, dass UK-Teilnehmer_innen ihre geplante Aktivität fortsetzen können.“

In anderen Worten: Auch im Falle von „No Deal“ verlässt man sich in jedem einzelnen Bereich auf einen Kompromiss, eine Einigung, sprich ganz viele kleine Deals statt dem einen großen, den man in den vergangenen zwei Jahren so gehörig verpfuscht hat.

Weil jede andere Annahme zu apokalyptisch wäre, um sie der Öffentlichkeit zuzumuten. Weil sonst die lebenden Langusten, die Schottland nach Europa exportiert, an der Zollgrenze verenden würden.

Weil selbst die sechs Wochen Vorrat, den pharmazeutische Vertriebe laut Regierungsempfehlung auf eigene Kosten anlegen sollen, nicht reichen würden (und bei weitem nicht alle davon sind überhaupt so lange lagerbar).

Weil in der EU lebende britische Pensionist_innen den Zugang zu ihren Rentenzahlungen verlieren würden. Weil die britische Wissenschaft mit einem Mal aus dem European Research Council fliegen würde.

Weil die offene Grenze zwischen Irland und Nordirland nach genau den von Brexiteers so vielbeschworenen WTO-Regeln sofort in eine harte Zollgrenze verwandelt werden müsste. „We will provide more information in due course“ heißt es dazu im Papier Trading with the EU if there is no Brexit Deal - „Wir werden zu gegebene Zeit mehr Information bereitstellen“ – Wann, wenn nicht jetzt, ist sie denn, die gegebene Zeit?

...aber Bacon, Lettuce & Tomato für alle.

Aber keine Angst, meinte Raab bei seiner Pressekonferenz mit angestrengter Süffisanz, man werde „nach dem Brexit weiterhin einen BLT genießen können“ (Bacon, Lettuce & Tomato-Sandwich, Mittagsmenü des „kleinen Mannes“) und „die Armee wird nicht eingesetzt werden, um die Nahrungsversorgung aufrecht zu erhalten“ (aber laut Supermärkten würden die Lebensmittelpreise um 12 Prozent steigen).

BLT Sandwich

jeffreyw / Wikimedia Commons / CC BY 2.0

BLT-Sandwich, CC BY 2.0

Wie gesagt, mehr als zwei Drittel der Papiere sind noch nicht einmal geschrieben bzw. veröffentlicht. Da gibt es also noch eine ganze Menge Apokalypsensalat in den No-Deal-Sandwich zu stopfen. Und einige der jetzigen Warnungen treffen selbst für den Fall zu, dass Theresa May sich mit der EU auf ihren Plan einigen sollte.

Schließlich beinhaltet auch jener einen Austritt aus der Zollunion und somit die im No-Deal-Papier formulierte lakonische Forderung an alle Firmen, die irgendwas aus der EU importieren, man möge sich doch der Dienste von „a customs broker, freight forwarder or logistics provider“ bedienen und die für die Verwaltung notwendige Software besorgen. Was übrigens „Kosten verursachen“ werde.

Natürlich kann es gar nicht genügend Spezialist_innen in Großbritannien geben, um zigtausende Unternehmen rechtzeitig auf die von einem No Deal-Szenario aufgeworfenen bürokratischen Hürden vorzubereiten.

Selbstverständlich ist die Einrichtung britischer Behörden, die die bisherige Arbeit der Bürotürme in Brüssel zur Zulassung von Produkten, Lizenzen, Patenten etc. erledigen sollen, in dieser Zeit nicht durchführbar.

Ebenso klarerweise können die unilateralen Versicherungen Großbritanniens, sich erst einmal an sämtliche EU-Normen zu halten, nicht ihre Mitgliedschaft bei den dazugehörigen Institutionen ersetzen.
Und wenn Großbritannien, wie von Leuten wie Boris Johnson gefordert, im Fall des No Deal nicht einmal seine Ausstände an die EU bezahlt, wird es auch das in Raabs Dokumenten erhoffte Entgegenkommen nicht geben.

Schon gar nicht in der für Großbritannien so überproportional wichtigen Finanzdienstleistungsindustrie. Das Kapitel „Banking, insurance and other financial services“ liest sich in der Tat besonders grimmig. Eine Kostprobe: „Inwieweit die Kund_innen von finanziellen Dienstleistern betroffen sein werden, wird davon abhängen, wo ihr Firmensitz liegt und unter welchen regulativen Autorisierungen sie operieren, sowie von den Dienstleistungen, die sie beanspruchen. Wenn seitens der Kund_innen Handlungsbedarf besteht, sollten Firmen dies ihren Kund_innen zu einer angemessenen Zeit mitteilen.“

Hilfreich, oder?

Britain' s Secretary of State for Exiting the European Union (Brexit Minister) Dominic Raab delivers his speech outlining the government' s plans for a no- deal Brexit

PETER NICHOLLS / POOL / AFP

Auf eine gewisse Weise schon, denn mit den gestern und in weiterer Folge veröffentlichten Informationspapieren zwingt die Regierung zumindest jene Wissenschafter_innen, Wirtschaftstreibenden, Bäuer_innen, im Ausland wohnenden Pensionist_innen usw., die bisher den Kopf in den Sand gesteckt haben, sich mit dem wahren Irrwitz des Brexit auseinanderzusetzen.

Das müssen sie auch dringend tun, denn Politik und Medien werden ihnen offenbar weiterhin nicht zu Hilfe kommen. Die Labour Party will statt einem zweiten Referendum lieber Neuwahlen und wartet daher auf die Implosion der Regierung May. Und die letzten BBC-Nachrichten, die ich heute gehört hab, fanden die Angriffe der Brextremist_innen auf den Schatzkanzler bereits wieder mitteilenswerter als den Inhalt von dessen Warnungen.

Aber insgesamt ist das alles bereits nur mehr so technisch wie die Notizen von Dominic Raab und seinem schildbürgerlichen Department for Exiting the EU. Denn selbst wenn der Brexit sich noch rückgängig machen lassen sollte, bedürfte es in Wahrheit einer inneren, ideellen Umkehr, und das ist eine noch wesentlich größere Aufgabe.

Dieses Land ist bereits ein ganz anderes geworden als jenes, in das ich einst gezogen bin. Und dorthin würde selbst ein zweites Referendum genauso wenig zurückführen wie der Brexit in das gesegnete Albion einer mythologisierten Vergangenheit.

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