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Kate Tempest

Alex Gent

Sollen sie doch Chaos fressen

Die Texte ihres zweiten Albums „Let them eat chaos“ hat die Londoner Rapperin und Autorin Kate Tempest auch als Gedichtband herausgebracht, der nun auf Deutsch vorliegt.

Von Katharina Seidler

Eine stürmische Nacht in London, es ist 4 Uhr 18, und Jemma liegt wach in ihrem Bett. Träge schwimmt Laternenlicht durch zerknickte Jalousien. Sie grübelt über ihre Vergangenheit nach, Ketamin zum Frühstück, Saufen mit bösen Mädchen, verlorene Freunde, vertane Chancen. All das liegt hinter ihr, und doch weiß sie nicht, wohin mit ihrer inneren Leere und undefinierbaren Sehnsucht nach einem besseren Leben.

Ein paar Häuser weiter kommt die Krankenpflegerin Esther gerade von einer Doppelschicht heim. Auch sie findet keinen Schlaf: Sie sorgt sich heute Nacht um die Welt. Ihre Gedanken kreisen um die aktuelle Entwicklung Europas, um Kapitalismus und Gentrifizierung, Klimawandel und gesellschaftliche Verrohung. Auch Pious, selbe Straße, selbe Uhrzeit, ist wach, und Pete, und Alicia, Bradley und Zoe, die ihre Wohnung in wenigen Stunden räumen muss, weil der Landlord die Miete verdreifacht hat. Sie alle suchen ihren Weg in der erbarmungslosen Großstadt, nach Auswegen aus dem Prekariat und, ja, nach Sinn in der globalisierten Welt. Im besten Fall gäbe es dann auch noch einen Menschen, der diesen versteht.

Unsere Stiefel zerstampften.
Unsere Gerichte verdammten.
Und gerettet wurden unsere beschissenen Banken.

Dieses Gedicht wurde zum laut Lesen geschrieben, stellt die Süd-Londonerin Kate Tempest ihrem Langgedicht „Sollen sich doch Chaos fressen“ als Rezeptionsanweisung voran, und genau das hat sie selbst auch getan. Ihre Lyrik wurde auf ihrem markerschütternden zweiten Album „Let them eat chaos“ vor zwei Jahren zu Lyrics, denn Tempest ist eine ebenso versierte Rapperin, die ihre Wortgewandtheit jahrelang in Poetry-Slams geschult hat. Die in Buchform erschienenen Texte könnten demnach also genausogut das Booklet zu ihrer Platte sein, und doch wird einem beim Lesen der Zeilen schnell klar, dass diese Sätze von der sorgfältigeren Setzung eines Buches profitieren.

Kate Tempest "Let them eat chaos" screenshot

Picador / Screenshot

Kate Tempests Geschichten jedenfalls sind kraftvoll wie eh und je. Sieben Menschen, einander unbekannte Nachbarn, stellen sich dieselben Fragen, ihre Schicksale stehen exemplarisch für die ihrer Generation zwischen Globalisierung und darwinistischem Neoliberalismus. Is this really what it means to be alive? Kurz nach vier Uhr Früh wird ein Sturm sie schließlich auf die Straße treiben, ihre Straße, die sich in den letzten Jahren so verändert hat. Pete, Zoe, Jemma, Esther, Pious, Alicia und Bradley rücken unter der Naturgewalt erschrocken und lachend zusammen; durchnässt bis auf die Knochen sehen und erkennen sie einander. Sie sehen, was sie teilen - mit diesem wie mit jedem Menschen.

Cover Kate Tempest "Let them eat chaos"

Edition Suhrkamp

„Let them eat chaos“ von Kate Tempest ist in der Übersetzung von Johanna Davids bei Suhrkamp erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.

Die Worte, die Kate Tempest für diesen Ausbruch aus der Isolation des Einzelnen findet, sind so stark, dass einem beim Lesen ebenso wie beim Hören des Albums oder bei ihren Live-Performances beinahe der Atem stockt. Auch im englischen Original stehen dem Verständnis keine allzu verworrenen Satzkonstruktionen oder Geheimvokabel im Weg. Johanna Davids übersetzte behutsam (Whose city is this? It doesn’t want me no more. - Wem gehört die Stadt? Mich hat sie satt.); ihre Umdichtung hat nur in Einzelfällen gegenüber der Semantik des Englischen das Nachsehen, etwa wenn das Verb „whitewashed“ einfach kein inhaltlich exakt passendes deutsches Gegenstück hat.

Es ist Kate Tempests große Kunst, durch nachvollziehbare, introspektive Makro-Aufnahmen allgemeingültige Weisheiten zu erzählen. Ihre klarsichtigen Spoken Stories haben ihr in der Vergangenheit zurecht bereits mehrere Lyrik-Preise, darunter den angesehenen britischen Ted Hughes Award for New Work in Poetry, eingebracht.

Am Ende von „Let them eat chaos“ steht ein leidenschaftlicher Weckruf der Dichterin an die Menschheit im Chaos eines kaputten Planeten. Auf Platte erklingen ihre Worte für diesen Moment alleine a capella, weil sie alle Aufmerksamkeit brauchen, ein flammendes Plädoyer für Aktivismus und Menschlichkeit, das im englischen Original noch einen Tick heller leuchtet als auf Deutsch. Zusammen ist man weniger allein.

I’m out in the rain
it’s a cold night in London

Screaming at my loved ones
to wake up and love more.

Pleading with my loved ones to

wake up
and love more.

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