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Anna Calvi - Hunter

Maisie Cousins

artist of the week

Die Gejagte als Jägerin

Anna Calvi ist unser Artist of The Week. Auf ihrem neuen Album „Hunter“ bringt die Britin die Geschlechterverhältnisse zum Tanzen.

Von Christian Lehner

„Vielleicht sollte man aufhören, diese Musik Rock’n’Roll zu nennen.“ Anna Calvi sinniert über das, was sie tut, wie sie es tut und was sich verändert hat. „Der Begriff hat mittlerweile einen zu schweren Rucksack. Es schwingt zu viel von der alten white-male-dominance mit.“ Calvi sitzt tief eingegraben in einem Ledersofa. Die Statur zierlich, die Haare wild, die Augen funkeln - der Anzug ist gewollt zu groß und sitzt doch perfekt. Calvi spricht über das Ende der Rockmusik, wie wir sie kennen und scheint doch so tief verwurzelt in der Kultur der alten E-Gitarren, des schwarzen Leders und der Elvis-Tollen. Das muss kein Widerspruch sein, wie die 37-jährige Britin auf ihrem neuen Album „Hunter“ demonstriert.

„Hunter“ ist Calvis drittes Album und es ist das erste, auf dem sie ihre queeren sexuellen Fantasien auslebt. „Im Rock ist die Frau traditionell die Gejagte, die Beute. Ich wollte untersuchen, wie es ist, die Jägerin zu sein“, sagt sie über den thematischen Schwerpunkt des Albums. Eine zerbrochene Beziehung und eine neue Liebe führten Calvi nach Frankreich. Der Landessprache nicht mächtig, verbrachte sie viel Zeit mit ihren Gedanken und Fantasien. Der Kampf der Geschlechter interessiere sie insofern, als dass sie ihn überwinden möchte. Das geht sich auf Albumlänge ganz gut aus. Calvi schlüpft gleich in der ersten Textzeile der Platte in die Rolle eines Mannes: „If I was a man in all but my body / Oh would I now understand you completely“. Im Song „Don’t Beat The Girl Out Of My Boy”, verlangt sie genau das, nämlich das Ende der mit dem Hammer verabreichten tradierten Rollenpädagogik.

Sex for all sexes

Dabei zeigt sich Calvi zwar unerbittlich im Ton, aber sanft im Urteil über das sogenannten starke Geschlecht. Revanchismus liegt ihr fern. „Wir alle werden schon früh in unsere Rollen gedrängt und leiden darunter. Mir ging es nicht darum, ein Album für eine bestimmte demographische Gruppe zu schreiben.“

Cover - Anna Calvi - Hunter

Domino Records

Die so oft verhandelte Freiheit im Rock ist nicht mehr eine Angelegenheit von und für Kerle, die im besten Fall die Begleitung mitmeint, sie schließt sie aber auch nicht aus. Dass sich fluide Geschlechterrollen in der Kunst einfacher realisieren lassen als in den Niederungen öffentlicher Diskurse oder nationaler Parlamente, davon wusste bereits das Calvi-Vorbild David Bowie das ein oder andere Lied zu singen. Und Calvi macht davon reichlich Gebrauch. „Ich wollte das Animalische in der Frau feiern, das kommt ja eher nicht so oft vor in unserer Kultur.“

Die aktuelle Sinnkrise der Rockmusik führt die Britin nicht bloß auf veränderte Hörgewohnheiten, auseinanderfallende Märkte und technische Neuerungen zurück. Wenn Pop nicht dort ist, wo sich das Leben und die Träume treffen, dann ist er im Museum, so ihre These. „Ich glaube, dass Genres wie Elektronik, R’n’B und Hip Hop derzeit auch deshalb so erfolgreich sind, weil sie ein viel breiteres Spektrum an Identifikationsmöglichkeiten anbieten.“

Auslaufmodell Rock’n’Roll

Es ist also weniger ein Problem der Formensprache - Calvi spielt eine Fender Telecaster, ihr Lieblingsgitarrist ist Jimi Hendrix – sondern eines des Gegenwartsbezuges, denn erst von dort aus lassen sich neue Formen des (Auf)Begehrens und des Träumens formulieren.

Musikalisch legt es Calvi eher klassisch an. Der Sound wird nicht ohne Grund in die Nähe von Nick Cave, PJ Harvey oder Siouxsie and the Banshees gerückt. Produziert hat Nick Launay (Nick Cave, Arcade Fire und Yeah Yeah Yeahs). Martin Casey von den Bad Seeds übernahm die Bass-Parts, Adrian Utley von Portishead zeichnet für die Keys verantwortlich.

Anna Calvi in Berlin beim FM4-Interview

Christian Lehner

Anna Calvi beim FM4-Interview in Berlin

Wie die ersten beiden Alben weist auch „Hunter“ cineastische Qualitäten auf und produziert Bilder zwischen Lynch und Morricone. Nasse Körper, rotes Licht, Traumsequenzen. „Hunter“ elektrisiert vom ersten Ton an, will nicht nur das Herz, sondern den ganzen Körper erobern und dringt tief in die Psyche vor. Die Lust und das Begehren sind der Puls dieser Platte. Das ist die Neuerung im Werk. Calvi hat sich eine Menge Ballast von der Seele gespielt und sie hat sich erhoben. Bereits jetzt ein Album des Jahres.

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