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Big Red Machine

Graham Tolbert

musik

L’art pour l’art

Der alte Spruch, Bon Ivers Justin Vernon und The Nationals Aaron Dessner schreiben ihn neu. Ihr Projekt Big Red Machine ist der aktuell spannendste Entwurf einer neuen Art von Popmusik.

Von Lisa Schneider

Alles begann vor gut zehn Jahren. Aaron Dessner ist erfolgreich mit seinem Hauptprojekt The National unterwegs. Ein bisschen verschanzter, melancholischer, aber nicht weniger gefeiert, arbeitet Justin Vernon als Bon Iver an dem Revival des sanften Folkpop. 2008 also schickt besagter Aaron Dessner eine Soundskizze an Justin Vernon, der seine Texte und das unverkennbare Falsetto darüberlegt. Es entsteht ein Song namens „Big Red Machine“, er landet auf der renommierten Charity-Compilation namens „Dark Was The Night“.

Bring your friends

Im Laufe der Jahre haben beide Künstler, Aaron Dessner vor allem gemeinsam mit seinem Bruder Bryce Dessner, einen erstaunlichen Freundes- und Bekanntenkreis an Singer-Songwritern um sich versammelt, mit denen sie ausprobieren, tüfteln, Spaß haben. Leslie Feist gehört ebenso dazu wie Lisa Hannigan, Zach Cohen, Erlend Øye, aber auch Kanye West oder Francis And The Lights. Das gemeinsame Basteln macht sogar soviel Spaß - und Sinn! - dass die beiden Gründer dieses Jahr ihre schon länger geplante Plattform „PEOPLE“ ins Leben rufen.

„PEOPLE“ ist zuallererst ein Streamingdienst, der ohne Werbung, Zahlungen der BenutzerInnen oder lästige Algorithmen auskommt. Künstler und Künstlerinnen sollen auf diesem Weg zusammenfinden und vor allem auch dazu aufgefordert werden, nicht nur perfekt fertiggestellte Popsongs, sondern gern auch einfache Schnipsel und Ideen hochzuladen und weiter daran zu arbeiten.

„Big Red Machine“ heißt damals der eine Song, den Vernon und Dessner gemeinsam geschrieben haben. „Big Red Machine“ heißt aber auch eines der vielen Musikprojekte, deren Weiterentwicklung man seit Monaten auf der PEOPLE-Website verfolgen kann. Und da, auf einmal sind vier neue Songs online, sie heißen „Gratitude“, „Lyla“, „Forest Green“, „Hymnostic“. Ohne Promo, ohne Videos, veröffentlicht auf ihren Social-Media-Kanälen.

Ein Festival zum Umdenken

Parallel zur Veröffentlichung dieser ersten vier Songs laden Vernon und Dessner 160 ihrer umtriebigsten, wohl auch begabtesten Freunde (neben anderen seien hier Damien Rice, Astronautalis, Richard Reed Perry von Arcade Fire genannt) nach Berlin ins ehemalige Funkhaus der DDR ein. Dort hat heuer, Mitte August, das PEOPLE Festival stattgefunden, als kleiner, feiner Gegenentwurf zu all den anderen europäischen Groß-Events, ihres Zeichens mittlerweile oft eher ausgetrampelte Bierzelt-Pfade auf der Suche nach dem größten, teuersten Line-Up.

Maria Motter hat das PEOPLE-Festival besucht.

Die Einnahmen der Tickets werden ausschließlich für die Produktion des Festivals verwendet, es gibt keine Werbung, kein offizielles Line-Up, keine Stage-Times. Was man sieht, erfährt man nicht, bis man im Raum steht - dem man per Los zugeteilt wird. Die teilnehmenden KünstlerInnen haben sich zwei Wochen zuvor in Berlin zusammengefunden, um ein Konzept zu erarbeiten, gemeinsam neue Songs zu schreiben und diese dann, gemischt mit Klassikern, dort in Berlin live darzubieten.

Sommerliche Festival-Musikunterhaltung also, nicht auf Schank-, sondern auf einem recht utopistischen Niveau, wo man nicht weiß, für welchen Künstler man gezahlt hat, wo man einfach gebeten wird, sich einzulassen auf den Ort und aufs Jetzt. Das ist auch ganz der Vorstellung der Plattform geschuldet, die sich nicht als fertiges Produkt versteht, sondern als Ort, an dem neue Dinge entstehen und sich weiterentwickeln sollen.

Ein Song, ein Festival, ein Album

Jetzt haben Justin Vernon und Aaron Dessner als Big Red Machine ihr erstes, selbstbetiteltes Album herausgebracht. Komisch eigentlich: Da läuft alles, was mit PEOPLE zu tun hat, so ganz nonkonform zur Musikindustrie unserer Zeit, und dann veröffentlichen diese beiden Vorreiter doch ein Produkt, das sich zumindest in Sachen der Form dem Markt anpasst?

Cover "Big Red Machine" Album

PEOPLE

„Big Red Machine“ erscheint auf Justin Vernons und Aaron Dessners hauseigenem Label PEOPLE.

Dabei ist das Album „Big Red Machine“ die Kulmination all dessen, was Vernon und Dessner mit Grundidee, Plattform und Festival Stück um Stück aufgebaut haben. Es ist kein Popalbum im klassischen Sinne, vielmehr führt es die skizzenhafte Arbeitsweise weiter. Und das auf eine präzise, anspruchsvolle Art, die gleichzeitig zeigt, dass es sich nicht nur um Fingerübungen und Talentsbeweise zweier sehr begabter Musiker handelt, die wir hier zu hören bekommen.

„Deep Green“ eröffnet die Platte, ein Song, der ebenso gut eine Klavier- oder Gitarrenballade hätte sein können, den man eben aber nicht bei der klassischen Struktur belassen hat. Schräg-verkopfte R’n’B-Anleihen, gemischt mit dicht aneinandergereihten Samples und der vom Vocoder verzerrten Stimme: So kennt man Bon Iver seit seinem letzten Geniestreich „22, A Million“.

Der einfache Unterbau, die üppige Strategie

Auf „Big Red Machine“ ist vieles gleich, aber auch vieles anders: Die Stimme ist nur mehr selten und wenn, dann zart verfremdet worden. Samples rutschen zugunsten einer originellen Symbiose programmierter sowie live eingespielter Drumarrangements in den Hintergrund. Genau diese Percussion- und Drumprogrammierungen sind es nämlich, die aus einem Lagerfeuersong den abstrakten Charakter herauskitzeln. Es sind einfache Harmonien und Vocallines, derer sich Justin Vernon eigentlich schon immer bedient; das, worum es auf „Big Red Machine“ geht ist das, was er gemeinsam mit Aaron Dessner an Soundspielereien und Arrangements darum herum gebaut hat.

Ordnet man „Big Red Machine“ ein in die Justin Vernon’sche Diskographie, ist sie der logische Schritt nach „22, A Million“. Dass man am gesamten Projekt gefühlt mehr Bon Iver-Input zu hören bekommt als jenen von The National, ist auch einfach der omnipräsenten Stimme Vernons zu verdanken. Außer, wie etwa auf „Melt“, der knirschenden Abschlussnummer: das ist eine Dessner-Gitarre, wie sie im Buche „Sleep Well Beast“ steht.

Es ist nicht alles schräg, verfremdet und zerkratzt auf „Big Red Machine“: Songs wie „Hymnostic“, vor allem aber auch „I Won’t Run From It“ bündeln das Neue, Experimentelle mit saftigem, choral geschwängertem Folk.

Zehn Songs, davon keiner wie der andere, einmal bodenständig-schwer melodisch, einmal mit Streichern angereichert, hineingesteigert ins gitarrenlastige Schrammeln, bis nichts mehr von der Ausgangsposition übrig bleibt. Mit „Big Red Machine“ skizzieren Justin Vernon und Aaron Dessner eine sehr gefinkelt durchdachte, und trotzdem nicht weniger genussvolle Sammlung an Ideen, Momentaufnahmen, Anstößen für die Zukunft, wie es weitergehen soll. Gerade dieser endlose Zeitanspruch, kombiniert mit dem Zufallsgedanken, positioniert sie in einem ganz neuen Denken von Pop. In einer steten Veränderung, die ihr Projekt zu einem der aktuell spannendsten überhaupt macht.

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