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Juli Zeh

Peter von Felbert

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Ein Familienurlaub wird zum Albtraum

Kindheitstage im Süden, die zum Horror werden, und ein Erwachsener, der nicht mehr klarkommt mit seinen Ambitionen: Juli Zehs neuer Roman „Neujahr“ ist ein Psychothriller. Was passiert, wenn eine Erinnerung plötzlich erwacht?

Von Maria Motter

Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann. So lautet ein Aphorismus, der einen guten Kalenderspruch macht. Dabei kann die Erinnerung einen übermannen. Wie, das zeigt Juli Zeh in ihrem neuen Roman. Da wird einem dann ganz anders. Studien, wonach frühe Erinnerungen oft auf Fotos oder Erzählungen beruhen, können nur kurzfristig beruhigen.

Denn wir wissen: Juli Zeh verhandelt in ihren Romanen Fälle, die zu Fragen um Schuld und Verantwortung führen. Bislang waren die Figuren ihrer Geschichten Erwachsene oder Jugendliche. Das ist diesmal anders: Juli Zehs neuer Roman „Neujahr“ spielt auch unter kleinen Kindern.

Buchcover mit Zeichnung eines Käfers auf einem runden Stein

Luchterhand Verlag

„Neujahr“ von Juli Zeh ist 2018 bei Luchterhand erschienen

Bereits einmal hat die Autorin einen Urlaub auf einer Insel in einen gewaltigen Kampf verwandelt: „Nullzeit“ trug die LeserInnen an einen Strand mit schwarzen Steinen. Diesmal wird die Insel beim Namen genannt: Auf Lanzarote kämpft sich ein Mann auf einem viel zu schweren Mountainbike Höhenmeter für Höhenmeter zum Gipfel eines Vulkanberges. Doch das Fahrrad ist nicht sein einziges Problem.

Dabei ist Henning, die Hauptfigur von „Neujahr“, eigentlich ein sympathischer Kerl. Er ist ein liebender Ehemann und Familienvater, die Kinder sind zwei und vier Jahre alt. Seine Frau Theresa und er wollen die Dinge anders machen als ihre Eltern. Sie sind emanzipiert. Halbe-halbe ist Beziehungspraxis, Theresa schleppt ihre Koffer selbst und sie ist beruflich erfolgreicher. Über Weihnachten und Neujahr wollte Henning mit der Familie unbedingt nach Lanzarote. Nächtelang hat er sich wie besessen durch Ferienhäuser geklickt. Warum, das konnte er sich selbst nicht erklären.

Im Ferienparadies ist dann eine Hausmauer über und über mit schwarzen Spinnen bedeckt. Der Anblick ist zu viel für Henning. Kurz, bevor er kollabiert, realisiert er: Er ist nicht zum ersten Mal auf Lanzarote. Als LeserIn erlebt man mit Henning einen Flashback von unvorhersehbarem Ausmaß.

Man fällt tief in Hennings Vergangenheit. Es ist die zweite Hälfte von „Neujahr“, die erst entzückend, dann schockierend erzählt ist. Juli Zeh erzählt dem kindlichen Vorstellungsvermögen und -unvermögen entsprechend so mitreißend.

Das Haus fängt an, sich zu verändern. Die Flure werden länger die Mauern dicker. Die Zimmer tauschen ihre Plätze. Das Dach senkt sich herab, als wollte es die Kinder erdrücken, dann wieder steigt es hoch in den Himmel.

Man muss diese Kleinkinder lieben, man muss mit und um sie bangen. Man muss weiter lesen, bis man Gewissheit hat.

Gibt es ein Entkommen?

Juli Zeh hat die Geschichte kompakt konstruiert. Was harmlos beginnt, wird zum harten Psychothriller, der einen modernen, jungen Mann in den Fokus nimmt. Weil, so toll die Ideale sind, so sehr läuft ihnen Henning hinterher und bleibt doch zu oft allein zurück. Hier gerät mehr als eine aufgeklärte, gleichberechtigte Partnerschaft ins Wanken. Henning leidet an etwas, das er nur „ES“ nennt. Panik attackiert ihn, sein Magen ist verstimmt. Seit der Geburt seiner Tochter ist ES heftiger denn je. Das sind mehr als Panikattacken. Eine klare Diagnose hat er nicht. Einem Henning ist man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur noch nicht begegnet.

Ein Familienurlaub wird zum Albtraum. Und Juli Zeh thematisiert die Folgen früher Erlebnisse, die uns gewaltig prägen können. „Neujahr“ hat eine Spannung, die erst kurz vor dem Moment gelöst wird, an dem es unerträglich wird. Die Geschichte liest sich superschnell. „Neujahr“ hat nur 190 Seiten. Es ist Juli Zehs bislang kürzester Roman. Und doch beschäftigt einen die Geschichte dann Tage lang.

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