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Christine and the Queens

Jamie Morgan

fm4 artist of the week

Ein ziemlich queeres Popmärchen

Wie aus Héloïse zunächst Christine, dann Chris und schließlich einer der größten Popstars Frankreichs wurde. Unser Artist of the Week.

Von Christian Lehner

Héloïse Letissier ist ein Teenager in der Provinz in Frankreich. Sie begehrt Jungs und Mädchen, träumt von Hosen und Röcken. Héloïse stößt auf Ablehnung und leidet an innerer Zerrissenheit. Sie ist rebellisch, aber auch schüchtern. Nach der Schule geht Héloïse nach Lyon. Dort studiert sie Tanz und Choreographie und fliegt aus disziplinären Gründen aus der Theatergruppe. Héloïse türmt nach London. Dort lernt sie in einer Bar drei Drag Queens kennen. Sie geben Héloïse den Rat, es doch mit der Musik zu versuchen.

Héloïse setzt sich an den Computer, loopt Gedichte zu Songtexten und erfindet den virtuellen Popstar Christine. Christine ist stark, selbstbestimmt, queer und feministisch. Christine ist alles, was sich Héloïse immer erträumte. Héloïse schreibt und schraubt an ihren Songs. Mit jedem Ton, jeder Note und jeder Zeile verwandelt sich Héloïse ein Stückchen in Christine. Mit dem Künstlernamen Christine and the Queens bedankt sie sich bei den drei Drag Queens für die Inspiration.

Als Christine ihre Musik in die Welt entlässt, hört die Welt zu. Endlich. Die Mischung aus Chanson, R’n’B und Pop zündet. Das Debütalbum „Chaleur Humaine“ (2014) verkauft sich wie warmes Baguette. Es ist, als hätte das sinnliche Frankreich auf ein queeres Pop-Update gewartet. So wird Christine zum Shooting-Star, zum Stern im spärlich besetzten Pop-Himmel Frankreichs. Auch Madonna und Elton John sind entzückt. Christine strahlt. Doch das ist noch nicht alles. Die Geschichte geht weiter. Vorhang auf für Chris.

Der große Beat

„Chris“ ist der Titel des neuen und zweiten Albums von Christine and the Queens. Christine nennt es einen Emanzipationsschritt vom Teenager zur Frau. Tanzte die ursprünglich aus Nantes stammende und jetzt in Paris lebende Christine noch etwas zaghaft und selbstzweifelnd durch ihr Debut, so hat sie für „Chris“ den großen Beat ausgepackt. Chris sollte eine burschikosere und forschere Variante von Christine werden. Chris rechnet ab mit der Performance von Weiblichkeit, unter der Héloïse so gelitten hatte. Sie schwitzt sich ohne Make-up durch die Videos, die Haut voller Furchen und Pickel. Als musikalisches Vorbild für das neue Album nennt die Französin den Pop-Sound der späten 80er- und frühen 90er-Jahre und hier im Speziellen das Album „Dangerous“ (1991) von Michael Jackson.

Die Studiotechnik befand sich damals im Umbruch. Die neue Methode des Samplings ermöglichte eine zuvor noch nie dagewesene „Expressivität der Sounds“, wie Christine in einem von der Plattenfrima zur Verfügung gestellten Interview erklärt. Diese elektronischen Paukenschläge hätten eine transformative, ja queere Qualität, die sie für das neue Album adaptieren wollte.

Cover - Christine and the Queens "Chris"

Caroline

Nirgendwo am Album wird das deutlicher als in dem Song „Girlfriend“. Das keuchend-gurrende Stakkato des Jackson-Gesangs (Michael UND Janet) kommt hier ebenso zur Anwendung, wie die aggressive, auf Dialoge ausgerichtete Tanzchoreographie im Video, so wie sie in den 80er-Jahren typisch war (vgl. Pat Benatars „Love Is A Battlerfield". Die Tanz-Sequenzen hat Christine selbst geschrieben. Sie hat auch das Album produziert.

Für „Girlfriend“ wollte die sich als pansexuell bezeichnende Musikerin in die Rolle des männlichen Klischee-Machos schlüpfen, ihn erforschen und aushöhlen. Anlass dafür war eine längere Dating-Phase mit Männern, die etwas unsouverän auf Christines dominantes Verhalten reagiert hatten und sich in ihrer Männlichkeit verletzt fühlten.

„Chris“ ähnelt im Konzept in vielerlei Hinsicht dem kürzlich erschienen Album „Hunter“ von Anna Calvi. Auch hier versucht die Protagonistin, die tradierten Geschlechterrollen über eine Gender-neutrale Vorstellung von Lust, Begierde und Sex zu überwinden. It’s your personality, not your gender, stupid! Das ist ein Grundgedanke, der die stilistisch sehr unterschiedlichen Alben verbindet.

Die zackige Grundstimmung von „Chris“ macht auch nicht vor den ruhigeren Stücken halt. Jedes Soundelement ist ausgestellt und funkelt. Der Beat fährt wie ein Presslufthammer dazwischen, öffnet Räume, in denen Christine ihre Phantasien und Gedanken ausleben kann.

So wirkt das neue Album wie aus einem Guss. Es ist ein wirkungsmächtiges Werk, das den Weg zu einer internationalen Popkarriere ebnen könnte. Die Nachfrage nach Christine und „Chris“ ist jedenfalls jetzt schon groß. Unlängst ist ein Portrait in der New York Times erschienen. Zwei mit diesem Sender vereinbarte Interviews in Berlin platzten in letzter Minute – der Promo-Plan sei im Moment einfach nicht zu bewältigen, so die Entschuldigung des deutschen Vertriebs. Das Album enthält jeweils französische und englische Versionen der Songs. Bereits „Chaleur Humaine“ wurde in einer englischen Version nachgereicht.

Und das Märchen? Man ahnt es. Auch das neue Album soll nicht den Endpunkt der Geschichte von Héloïse, Christine und Chris markieren. Das wäre auch etwas viel verlangt beim zweiten Longplayer. Und das ist auch gut so, denn die Stärke ist auch die Schwäche des Albums.

Setzte „Chaleur Humaine“ mit seiner stilistischen Bandbreite einen angenehmen Kontrapunkt zum aufgeblasenen High-End-Pop dieser Tage, so krankt „Chris“ am hermetisch abgeschlossenen Sound-Design. Nach einer Weile des Tanzens auf leuchtenden Ziegelsteinen stellt sich eine gewisse Fußmüdigkeit ein. Das ist aber Meckern auf hohem Niveau. Tracks wie „Doesn’t Matter“, „Goya Soda“ und „The Walker“ laden zum Verbleiben in der Großraumdisco ein. Von dort aus kann das Märchen ruhig weitergehen. Prinz oder Prinzessin? Who cares.

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