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Marie Luise Lehner

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Im Blick

Der zweite Roman von Marie Luise Lehner ist ein Manifest für Solidarität unter Frauen.

von Christian Pausch

Ob „Im Blick“ tatsächlich ein Roman sei, habe ich Autorin Marie Luise Lehner gleich am Anfang unseres Interviews zum Buch gefragt. Neben der fortführenden Geschichte gibt es nämlich auch einige Exkurse ins Theoretische. Essayistische Passagen sind im Roman natürlich erlaubt, aber: „Es stimmt schon, wenn eine Literaturkritikerin das durchschaut, dann sagt sie das ist kein Roman. Aber es steht trotzdem drauf“, erklärt mir Marie Luise Lehner. Das habe mit der Erwartungshaltung der Leser*innen zu tun, die sich unter einem Roman nicht mehr und nicht weniger als eine Geschichte mit Anfang und Ende erwarten, und das biete „Im Blick“.

Aber das zweite Buch der jungen österreichischen Autorin bietet noch mehr. Die theoretischen essayistischen Passagen sind nämlich keine staubtrockenen wissenschaftlichen Abschriften, sondern sehr zugängliche und kluge Kommentare. Das feministische Einmaleins aus der Sicht einer Protagonistin, die es selbst erst erlernt. „Im Blick“ ist dabei vor allem ein augenöffnendes Buch in die Welt von jungen, adoleszenten Mädchen und Frauen, die oft auf harte Weise lernen müssen, was Blicke, die eigenen sowie vor allem die von außen, anrichten können.

„Der Titel hat viele Bedeutungen, es geht natürlich um den männlichen Blick, dem Frauen ausgesetzt sind, gleichzeitig wirft das Buch aber natürlich auch einen Blick auf den Zustand der Gesellschaft und fragt mit welchem Blick kann man überhaupt schauen", so Lehner. "Und es geht auch um einen liebevollen und begehrenden Blick, um Blicke unter Freundinnen, um ganz viele verschiedene Blicke.“

Im Blick von Marie Luise Lehner

Kremayr & Scheriau

„Im Blick“ von Marie Luise Lehner ist bei Kremayr & Scheriau erschienen. Die Erstpräsentation findet heute, am 21.09.2018, im phil in Wien statt.

Wir begleiten die namenlose Protagonistin und ihre beste Freundin Anja von ihrem zehnten Geburtstag bis zu ihrem einundzwanzigsten. Sie verlieben sich das erste Mal, sie machen die ersten sexuellen Erfahrungen, später experimentieren sie mit Drogen, gehen auf Parties und trampen durch Aserbaidschan. Das Buch holt einen auch zurück in die eigene Schulzeit, weil sie von Marie Luise Lehner so authentisch beschrieben wird. „Weil es alle tun“ ist ein häufiger Satz in der Geschichte: „In der Schulzeit ist man noch viel stärker als später einem Bestrafungssystem ausgesetzt. Wenn ich zum ersten Mal einen Push-Up-BH trage, finden das alle Mädchen gut. Wenn ich die letzte bin, die sich die Achselhaare rasiert, finden das alle Mädchen schlecht. Und dementsprechend bin ich beliebt oder unbeliebt“, erinnert sich die Autorin.

Es ist auch eine Momentaufnahme unserer Zeit, der Stadt Wien, der queerfeministischen Szene und der Diskurse, mit denen sich die Szene derzeit beschäftigt. „Mir wird gerade erst bewusst, dass ich vielleicht ein Nischenbuch geschrieben habe“, lacht Lehner im Interview. Doch das ist es natürlich nicht, es geht um Solidarität unter Frauen, um unangenehme Erfahrungen beim Erwachsenwerden und genau so stark auch um schöne Erfahrungen dabei. Das sind keine Nischenthemen.

„Ich beginne, mein Aussehen im Spiegel zu kontrollieren und den Unterschied, wie ich mich von innen fühle und von außen wirke, wahrzunehmen. Ich beobachte an mir, wie weich mein Gang ist, wie breitbeinig ich sitze. Wenn ich eine Antwort auf eine Frage nicht weiß, lerne ich, charmant zu lächeln. Ich versuche, beim Nachdenken den Mund zu schließen. Mit der Zeit übernehme ich die Kontrolle über alle meine Bewegungen und überlasse nichts mehr dem Zufall.“

Es gibt viele kleine Momente im Buch, oft nur Ein- oder Zweizeiler, die aber oft die größten Gefühle transportieren. Das habe sich daraus entwickelt, dass Lehner am Anfang ihres Schreibens kaum längere Texte als eben solche geschrieben hat. Die hatten dann oft eine Überschrift, zwei Sätze und aus. „Ich denk mir manchmal, es ist besser nur das alleressentiellste aufzuschreiben.“ Die Räume zwischen den wenigen Zeilen würden dann eh die Leser*innen füllen.

„Wir liegen unter dem Tisch und lachen und kreischen. Die Zeit fühlt sich endlos an. In Anjas Augenwinkel hat sich eine Träne gebildet.“

Die Protagonistin findet in schwierigen Momenten Halt in der Popkultur. Es werden Musiker*innen wie 2raumwohnung und die Rapperin Sookee genannt, der Filmemacher Xavier Dolan oder die Fotografinnen Diane Arbus und Nan Goldin. Es sind vor allem Frauen, oder queere Kunstschaffende, die ihren Horizont erweitern und ihr helfen sich in unserer wirren Welt zurecht zu finden. Ein Wesenszug, dem man als popaffiner Mensch nur sympathisch finden kann.

„Im Blick“ ist wie schon Marie Luise Lehners erster Roman „Fliegenpilze aus Kork“ ein sehr kurzes Buch geworden, das man schnell ausgelesen hat. Ein Umstand, der einem einerseits schnell Leseerfolg verschafft und andererseits dazu anstiftet das Buch gleich ein zweites Mal zu lesen. Die darin erzählte Geschichte und die damit zusammenhängenden Thesen sind es nämlich allemal wert zweimal gelesen und gut verinnerlicht zu werden.

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