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Wolfgang Herrndorf

dpa/Patrick Seeger

Wolfgang Herrndorf posthum

„Stimmen“ sammelt Texte aus dem Nachlass des Tschick Autors.

Von Martin Pieper

Kann man ein neues Buch von Wolfgang Herrndorf veröffentlichen? Sein Freitod 2014, am Ende einer schweren Krebserkrankung, hat uns einen der größten Verluste der jüngeren deutschen Literatur beschert. Mit seinem Roman „Tschick“ ist er mittlerweile im Kanon der Schulliteratur angekommen, sein Roman „Sand“ hat ihn endgültig vom Etikett des „Jugendbuchautor“ befreit. Danach kam noch „Arbeit und Struktur“, ein tieftrauriges Protokoll seiner Krankheit und deren Auswirkungen auf sein Denken und seine Arbeit.Daneben angefangene Romanprojekte, Unvollendetes und vor allem viel „Gelöschtes“.

Was nicht gut genug ist, muss weg

Wolfgang Herrndorf hat wenig dem Zufall überlassen. Keine Fragmente hinterlassen, keinesfalls Unfertiges abdrucken, alles löschen, was seinen Ansprüchen nicht genügt, darum hat er noch zu Lebzeiten so gebeten.

Jetzt erscheint mit „Stimmen“ doch noch ein Band mit verstreuten Texten, die Herrndorfs strengen Maßstäben genügen sollten. Im Nachwort beschreiben die Herausgeber Marcus Gärtner und Cornelius Reiber ihre Herangehensweise an den schmalen Nachlass, die von Respekt gegenüber dem Autor und seinen Wünschen geprägt ist.

„Stimmen“ versammelt Kürzestprosa, Kurzgeschichten, ein kleines Dramolett und sogar Gedichte, die Wolfgang Herrndorf seit 1988 geschrieben hat. Begonnen hat Herrndorf als bildender Künstler mit einem Hang zu altmeisterlicher Technik. Er war Mitarbeiter des Satire-Magazins Titanic und Über das mittlerweile eim bisschn ausgeblichene Internetforum Wir höflichen Paparazzi hat sich Wolfgang Herrndorf immer mehr zum Schreibenden gewandelt.

Wir höflichen Paparazzi als Vorstufe zu literarischem Ruhm
Eigentlich wurde das Forum von Tex Rubinowitz und Christian Ankowitsch gegründet, um Menschen die Gelegenheit zu geben, ihre zufälligen Begegnungen mit Prominenten aufzuzeichnen. 2004 gab es dafür eine Nominierung für den Grimmepreis. Mitgeschrieben und vor alle kennengelernt haben sich via höfliche Paparazzi unter anderem Wolfgang Müller, Felix Kubin, Joachim Lottmann, Murmel Clausen oder Kathrin Passig. Autorinnen, die später Bachmannpreise gewinnen sollten oder als Journalistinnen und Bloggerinnen zu einiger Berühmtheit gelangen sollten.

Wolfgang Herrndorf war bei den höflichen Paparazzi unter anderem unter dem Nickname „Stimmen“ unterwegs, der jetzt auch als Titel dieser Textsammlung dient. Einiges aus dem höflichen Paparazzi-Forum hat jetzt auch den Weg in den schmalen Band gefunden.

Der tragische Tod überschattet die Rezeption

„Falls ich jemals etwas anderes als reine Fiktion schreiben sollte, erschießen Sie mich bitte.“, lautet einer der Aphorismen (?) aus „Stimmen“. Dabei hat sich die Grenze zwischen Biografie und Literatur bei Wolfgang Herrndorf in den letzten Jahren seines Lebens immer mehr verflüssigt. Auch „Stimmen“ kann man nicht anders lesen als mit Herrndorfs Tod im Kopf.

Braunes Buchcover

rowohlt

„Stimmen“ von Wolfgang Herrndorf ist im Rowohlt Verlag erschienen. Hier gibt es eine Leseprobe.

Das liegt aber nicht unbedingt an den Texten selbst. Die Geschichten über übermütige Spritztouren durch Brandenburg, Tankstellenbesäufnisse oder autobiografische Erlebnisse in der DDR des Jahres 1990 sind pointierte, genau und unglaublich komische Beschreibungen einer untergegangen Welt namens BRD. Aber es wäre nicht Herrndorf, würde er nicht eine launige Partybeschreibung unvermittelt so beenden: „Zu Fuß ging ich nach Hause und heulte den ganzen Weg, weil ich so einsam war.“

Tragikomisch ist ein fast ausgestorbenes und eigentlich furchtbares Wort. Um das literarische Universum von „Stimmen“ zu beschreiben passt es aber trotzdem. Neben tatsächlich autobiografischen Kindheits- und Jugenderinnerungen aus der BRD der 70er- und 80er-Jahre enthält „Stimmen“ auch einige Notizen von Wolfgang Herrndorf zu Literatur und Kunstverständnis. Man muss aber nicht Germanistik studiert haben, um den Außenseiter und Humanisten in Wolfgang Herrndorfs Kunsttheorie zu erkennen. Vielleicht war er „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, jedenfalls hat er den Ball immer flach gehalten, selbst im Zeichen des persönlichen Dramas. Am Ende gibt es in Stimmen sogar noch ein paar richtige Gedichte zu lesen. Manche davon sogar aus der Kategorie „Jugendsünden“, aber trotz aller Perfektion im Schreiben, stellt Herrndorf offenbar das Wahrhaftige über das vorgeblich Peinliche.

Wenn man mich mal hinuntersargt,
Soll’s gut sein und vorbei die Not.
Und falls man dich nach mir einst Fragt,
Dann sag: Ach, ist der auch schon tot?

(aus „Trost No.7“)

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