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Screenshot aus "Attentat 1942"

Karls-Universität, Czech Academy of Sciences

Das Game „Attentat 1942“ und die deutsche Freigabe

Das tschechische Indiegame ist eine Mischung aus Adventure, Lernspiel und Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg. Nach einem Paradigmenwechsel im deutschen Jugendschutz ist es nun auch unzensiert - inklusive Nazi-Symbolen - erhältlich.

Von Robert Glashüttner

Die Zeit der ZeitzeugInnen des Zweiten Weltkrieges ist fast vorbei. Wer in den 1930er und 1940er Jahren ein junger Mensch war, ist heute zumindest in seinen hohen 80ern. Das stellt einen Paradigmenwechsel für die Erinnerungskultur dar, die nun mehr denn je vielseitig und medienübergreifend arbeiten muss, um aktuell zu bleiben und nicht Gefahr zu laufen, den Anschluss an die Gegenwart zu verlieren und in den Geschichtsbüchern zu verschwinden.

Computerspiele tragen zu dieser sich neu formenden Erinnerungskultur in jüngster Zeit immer mehr bei, etwa mit Titeln wie „The Town of Light“ (FM4 hat berichtet), das die Misshandlung psychisch kranker Menschen während des Zweiten Weltkriegs in Italien zum Thema hat. Vergangenes Jahr ist ein weiteres Spiel erschienen, das im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist und sich mit dem Widerstand in der von den Nazis besetzten Tschechoslowakei („Protektorat Böhmen und Mähren“) beschäftigt. In „Attentat 1942“ wird interaktiv eine fiktive Geschichte erzählt, die allerdings sehr nahe an historischen Begebenheiten angelehnt ist.

Was haben Oma und Opa damals gemacht?

ZeitzeugenInnen-Interviews machen den Kern von „Attentat 1942“ aus. Das Game spielt im Jahr 2001, als viele Betroffene noch nicht zu alt waren und mit klarem Verstand über die Nazi-Verbrechen sprechen konnten. Spieler und Spielerin wählen sich zu Beginn ihr Geschlecht aus und werden damit zur Enkelin oder zum Enkel ihres tschechischen Opas, der 1942 von der Gestapo verhaftet worden ist. Opa selbst liegt im Krankenhaus und kann oder will nicht mehr sprechen, doch dafür hat Oma viel zu erzählen.

„Attentat 1942“ ist für Windows und Mac erschienen.

Nachdem am 27. Mai 1942 SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, bei einem Attentat in Prag schwer verletzt worden war und eine Woche später starb, rächten sich die Nazis und machten den BürgerInnen das Leben noch mehr zur Hölle als davor. Es gab viele Verhaftungen, zwei Dörfer wurden komplett niedergebrannt. Doch uns - Enkel oder Enkelin - ist im Nachhinein nicht klar, welche Rolle unser Großvater dabei gespielt hat. War er im Widerstand aktiv? Ein wahllos herausgepicktes Opfer? Oder gab es einen anderen Grund?

Screenshot aus "Attentat 1942"

Karls-Universität, Czech Academy of Sciences

Lernen anhand einer persönlichen Geschichte

„Attentat 1942“ ist eine Mischung aus Adventure, Lernspiel und Dokumentation. Die persönlichen Geschichte eines betroffenen Paares und seiner Bekannten, Weggefährten und Freunde lässt uns zum Detektiv oder zur Detektivin werden. Zwischendurch erfahren wir Fakten über die Kultur im Protektorat, die Nürnberger Gesetze oder das Leben und Sterben im KZ. Der tschechische Blickwinkel bietet neue Einblicke und Details, über die man in Österreich und Deutschland allgemein nicht so viel weiß: über den Prager Aufstand etwa oder die Tschechoslowakische Legion.

Wir können bis zu einem bestimmten Grad entscheiden, wie wir mit den ZeitzeugInnen sprechen, was dazu führt, dass wir manchmal mehr, manchmal weniger Informationen bekommen. In Rückblenden springen wir in eine schwarz-weiße Zeichengrafik, schlüpfen in die Rollen der Betroffenen und müssen etwa antideutsche Flugblätter vor den Nazis verstecken oder als Journalist einen Artikel über das Attentat auf Heydrich schreiben, der einerseits nicht noch mehr TschechInnen in Gefahr bringen, andererseits aber auch nicht als Kollaboration mit den Deutschen verstanden werden soll.

Besseres Eintauchen

Rein als Computerspiel betrachtet ist „Attentat 1942“ durchwachsen: Die Dialogoptionen sind nicht allzu umfangreich ausgefallen und die Minispiele wirken in ihrer Oberflächlichkeit manchmal etwas zu banal und stehen damit im Kontrast zum düster-historischen Setting. Diese Spielmechaniken sind aber vor allem Mittel zum Zweck, um nämlich Spielerin und Spieler beim Thema zu halten, sie selbst in Rollen zu stecken und die Unmittelbarkeit der lebensbedrohlichen Situationen abzubilden. Dies sind wichtige Leistungen, die so nur von Games erbracht werden können und damit einen wichtigen Puzzlestein in der neuen Erinnerungskultur darstellen.

Screenshot aus "Attentat 1942"

Karls-Universität, Czech Academy of Sciences

Seit kurzem auch auf deutsch

Seit Anfang September ist „Attentat 1942“ - erstmals im Herbst 2017 erschienen -, nicht nur in deutscher Sprache, sondern auch unzensiert in Deutschland erhältlich. Es ist das erste veröffentlichte Computerspiel, das mit der seit kurzem wirksamen Sozialadäquanz-Klausel gekennzeichnet worden ist. Damit sind nun in Deutschland verfassungswidrige Symbole auch in digitalen Spielen erlaubt, sofern sie einem aufklärerischen Zweck dienen.

Es war lange Jahre eine absurde Situation: Videospiele galten in Deutschland nicht als Kunst im klassischen Sinn, was rechtlich dafür gesorgt hat, dass verfassungsfeindliche Symbole - allen voran das Hakenkreuz - nicht in Games abgebildet werden durften. Der Wirbel um „Wolfenstein 2: The New Colossus“ vor einem Jahr - inklusive einer Hitler-Figur, die als „Herr Heiler“ bezeichnet wurde und kein Oberlippenbärtchen hatte - hat die negative Sonderstellung von digitalen Spielen wieder aufs Tapet gebracht. Darüber hinaus haben viele KommentatorInnen vor Verharmlosung gewarnt. Historische Bezüge zu Faschismus und Diktaturen sollen in Lehrmaterialien und künstlerischen bzw. kulturellen Werken beim Namen genannt werden dürfen, um die dringende Notwendigkeit von politischem Widerstand in undemokratischen Zeiten aufzeigen zu können.

Sozialadäquanz

Diese Diskussion hat nun offenbar Wirkung gezeigt. Anfang August hat die deutsche Prüfstelle USK, die rechtlich verbindende Prüfungen von Computerspielen durchführt, bekanntgegeben, dass sie bei der Altersfreigabe von Games künftig die Sozialadäquanz berücksichtigen wird.

„Sozialadäquat bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Symbole verfassungsfeindlicher Organisationen in einem Titel verwendet werden können, sofern dies der Kunst oder der Wissenschaft, der Darstellung von Vorgängen des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient.“

Durch die Medien ist vor allem das erste Spiel gegangen, das eine Woche nach Bekanntgabe der USK unter Berücksichtigung der Sozialadäquanz gekennzeichnet wurde: „Through the Darkest of Times“, ein Strategiespiel bei dem man in die Schuhe von WiderstandskämpferInnen schlüpft. Das Spiel vom jungen Indie-Entwicklerstudio Paintbucket Games aus Berlin wurde - rechtzeitig vor der Gamescom - mit einer Kennzeichnung „Ab 12 Jahren“ versehen. Allerdings steckt „Through the Darkest of Times“ noch mitten in der Entwicklung, mit einem geplanten Veröffentlichungsdatum im Laufe des Jahres 2019.

Das erste veröffentlichte Game zu sein, das mittels der Sozialadäquanz-Klausel gekennzeichnet worden ist, darf sich allerdings „Attentat 1942“ auf die Fahnen heften. Es ist zu hoffen, dass in den kommenden Jahren weitere aufklärerische Games diesem Vorbild folgen werden.

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